Flavien Ruthmann

 

365 ZEUGNISSE DER GELEBTEN GASTFREUNDSCHAFT

Bruder

Frankreich

Flavien Ruthmann

 

“Meine Schwächen zu akzeptieren bedeutet, das Wagnis der Hospitalität einzugehen… ” 

60 Jahre im Dienst der Hospitalität, 60 Jahre, in denen ich das Wagnis eingegangen bin, Christus mit der Fragilität unseres Lebens zu folgen, 60 Jahre, in denen der hl. Johannes von Gott mein Vorbild war. Ich erinnere mich an mein erstes „JA“. Mir scheint fast, es sei erst gestern gewesen. Darüber meditierend bin ich zu dem Schluss gekommen, „JA“ zu sagen bedeutet, den Mut haben, unsere Menschlichkeit in Fülle zu leben, nicht nur unseren Schwächen zum Trotz, sondern gerade auch durch sie. Wahrscheinlich hat es in meiner Kindheit ein Ereignis gegeben, das den Entschluss, im Dienste der Armen leben zu wollen, bekräftigt hat. Was das wohl war? Zutiefst gerührt von dem was einem Verwandten widerfuhr? Berührt von einem Lebensbericht meiner Familie, eines Geistlichen? Überwältigt von einem Antlitz oder empört und angewidert gegenüber Situationen, die ich unakzeptabel finde, weil etwas Entscheidendes geschieht und die Würde unserer Menschlichkeit auf dem Spiel steht? Sagen kann ich es nicht. Nichtsdestotrotz verlangt eine solche Empörung gegenüber den Schwierigkeiten der anderen vor allem, dass man sich dem anderen, in welcher Form auch immer, zugewandt hat. Auf den Hilferuf des Schwächeren antworten, ihm zur Seite stehen, setzt voraus, dass uns Gottes Gnade zuteil geworden ist, aber auch, dass der Kranke, der Arme uns berührt hat. Die Lehre des Barmherzigen Samariters ist interessant: Man muss zu allererst des anderen Nächster werden. Dies ist die Haltung des hl. Johannes von Gott. Mitleid, z.B. bedeutet nicht, an die Stelle des anderen zu treten (da dies ja nicht möglich ist), sondern vielmehr „mit dem anderen zu sein“ in seinen Prüfungen, und für ihn, wie der Barmherzige Samariter oder der hl. Johannes von Gott, zum Weggefährten werden. Die eigene Schwäche zu zeigen bedeutet, so gesehen, Hospitalität ermöglichen. Vom anderen empfangen und aufgenommen zu werden, einen echten Austausch haben… dies erfordert meist, sich selbst arm und verletzlich zu erkennen. Dies sind die Früchte meiner täglichen Betrachtungen. 

 

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