Die Spiritualität eines Barmherzigen Bruders

Der Weg der Hospitalität in der Nachfolge des heiligen Johannes von Gott

CAMINO DE HOSPITALIDAD

der Weg der Hospitalität in der Nachfolge

des Heiligen Johannes von Gotta comienzos del tercer milenio

Espiritualidad de la Orden

 de los Hermanos de San Juan de Dios

 

Zusammengestellt und erarbeitet von

Valentín Riesco, OH - José Cristo Rey García Paredes, CMF


Einleitung

1.       Das Werk, “das der gesegnete Mann Johannes von Gott voller Glauben”[1] “um 1538 in Granada in einem ärmlichen, gemieteten Haus”[2] begann, wirkt mit ungebrochener Kraft bis heute fort. Sein Geist und Charisma pulsieren auch noch nach 465 Jahren voll Energie in unserer Welt. Seine befruchtende und umgestaltende Kraft entfaltete eine so große Wirkung, dass Frauen und Männer der verschiedensten Völker, Kontinente, Rassen und Zeiten in ihm ihren “geistigen Vater” erkennen. Gedrängt von seinem Geist, führen diese Menschen heute vielfältige Aktivitäten zum Schutz und zur Hilfe, für die Gesundheit und die Förderung der benachteiligsten Glieder der Gesellschaft durch[3].

2.       Wir leben heute nicht nur in einer Zeit des Wandels, sondern in einem regelrechten Zeitenwandel. Denk-, Tätigkeits- und Lebensformen, die gerade noch „in“ waren, sind morgen schon überholt und anachronistisch. Alte Methoden und Institutionen verlieren ihre Wirksamkeit. Deswegen muss das Erbe, das wir von Johannes von Gott empfangen haben, nicht nur ehrfurchtsvoll übernommen, sondern in neue Ausdrucksformen übertragen, in neuen kulturellen Formen gelebt und mit neuer Begeisterung empfunden werden.

 

1. Der Zeitenwandel

3.       Der Zeitenwandel, den wir gerade erleben, wirkt sich auf unsere Gemeinschaft unter verschiedenen Gesichtspunkten aus: dem der Globalisierung und Regionalisierung sowie dem der Postmoderne und ihres Einflusses auf Kirche und Orden.

Ø             Globalisierung und Regionalisierung: Wir leben in einer Zeit der Globalisierung (sprich der zunehmenden Vernetzung der Welt), aber auch der Regionalisierung (Durchsetzung spezifischer lokaler, einheimischer, eigenkultureller Werte). Beide Strömungen weisen sowohl positive, als auch negative Merkmale auf. Eine menschliche, solidarische und nicht wenigen privilegierten Schichten dienende Globalisierung bietet völlig neue Möglichkeiten, die Gemeinschaft unter den Nationen, Völkern und Menschen zu fördern. Eine Regionalisierung, die nicht auf Abschottung und radikale Eigenständigkeit zielt, kann unsere Welt mit einem unvorstellbaren Reichtum und neuen Perspektiven befruchten. Auch unser Charisma globalisiert und regionalisiert sich ständig, indem es in verschiedenen Ländern und Kulturen Gestalt annimmt. Angesichts einer Welt, in der die globalisierte Wirtschaft Ursache schwerer Diskriminierungen ist und unzählige Opfer fordert, fühlen wir uns ganz besonders in die Pflicht genommen, der Forderung der Kirche nachzukommen, dass Solidarität, Menschlichkeit und Nächstenliebe globalisiert werden müssen. Zugleich fühlen wir uns verpflichtet, einheimische Werte und die Individualität einer jeden Person zu schützen, ganz besonders solcher, die von der globalisierten Gesellschaft an den Rand gedrängt werden.

Ø              Postmoderne: Die sogenannte Postmoderne ist ein weiteres Merkmal des Zeitenwandels, in dem wir leben. Die Postmoderne kann auch als ein neues, gemeinsames, weltumspannendes “Denken” bezeichnet werden, das in dieser oder jener Form bei allen Völkern der Erde anzutreffen ist. Dieses Denken zeigt uns, dass die Zeit des Totalitarismus, des Absolutismus, der dogmatischen Visionen, des Patriarchalismus vorbei ist; dass die einstige, eurozentrische Weltsicht, mit der alles erklärt und geordnet wurde, endgültig überholt ist. Dem postmodernen Geist begegnet man besonders bei Jugendlichen, obwohl er uns alle betrifft. Diese Geistesströmung legt uns nahe, dass wir uns mit unvollkommenen und bruchstückhaften Welterklärungen zufrieden geben sollten, dass es realistischer ist, kleine Schritte der Veränderung zu machen, als den radikalen Wandel zu fordern, dass wir den Pluralismus und die Verschiedenheit akzeptieren und toleranter und offener gegenüber dem Andersartigen sein müssen. In diesem Kontext erlangen die Hospitalität und Barmherzigkeit eine neue Bedeutung und stellen uns vor die Herausforderung, sie in und mit zeitgemäßen Tätigkeitsformen und Strukturen in die Praxis umzusetzen. Die Postmoderne stellt auch eine große Herausforderung für unsere Spiritualität dar, welche in Übereinstimmung mit dem postmodernen Geist mehr als ein Weg denn ein moralisches Gesetz oder eine abstrakte Forderung verstanden werden muss. Die Postmoderne macht uns empfänglicher für die vielfältigen menschlichen und christlichen Lebensformen, die es gibt, und somit offener für das Miteinander und die Gemeinschaft. Aus diesem Grund sprechen wir auch vom Miteinander in der Sendung, im Charisma und im Leben.

Ø              Chancen und Gefahren: Vor uns liegen neue, große Chancen, aber auch unbekannte, fürchterliche Gefahren. Wir stehen vor einer Zeit, die wir nicht mehr überblicken und in der wir neue Wege finden müssen. Die Auswirkungen dieses Zeitenwandels berühren alles in uns: Geist und Körper, Individuum und Gesellschaft, Heiliges und Weltliches. Unsere Beziehungen sind nicht mehr, wie sie waren. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (männlichem und weiblichem) zeigt sich von neuen Seiten und spielt sich in einer neuen Beziehungsform zwischen Mann und Frau ab (sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft). Neben den üblichen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen tauchen neue Machtformen auf, welche die alten bedrohen (Terrorismus, Kriminalität usw.): Die Konsequenzen dieses Machtkampfes haben wir mit Millionen anderer Menschen zu tragen. Die Menschheit kennzeichnet sich heute durch eine ungeahnte physische und virtuelle Mobilität, welche einen ruhigen Rhythmus und überschaubare Etappen nicht mehr zulässt, sondern uns großer Ungewissheit ausliefert. Es gibt ein reales Wirtschaftswachstum. Das ändert jedoch nichts daran, dass Millionen Menschen weiter in bitterster Armut leben. Die menschliche Seele wird derart mit Kontrasten und Reizen überflutet, dass nicht wenige unter dieser Last zerbrechen, in Depressionen verfallen oder andere schwere psychische Symptome entwickeln. Alle leiden wir, heute mehr denn je, unter einem schmerzhaften Verlust des „Lebenssinns“ und des Menschlichkeitsgedankens.

 

2. Kirche und Orden in dieser Welt

4.       Auch die Kirche macht diesen Zeitenwandel mit und ist nicht mehr wie früher.

Ø              Sie hat ein globaleres und internationaleres Gesicht. Sie ist multikultureller und umfasst mehr Rassen als je zuvor.

Ø              Sie erahnt die Möglichkeiten eines neuen Aufbruchs, aber auch die großen Gefahren und Bedrohungen, welche der Zeitenwandel in sich birgt.

Ø              Gedrängt von der großen Barmherzigkeit, die ihr Wesen ausmacht, ist es der Wunsch der Mutter Kirche, alle Menschen aufzunehmen und ganz besonders für die schwächsten offen zu sein.

Ø              Sie hört mit neuer Wachsamkeit und schöpferischem Sinn auf die Worte des Auferstandenen, von dem sie zu allen Völkern der Welt gesandt ist, um das Evangelium zu verkünden und seine Barmherzigkeit erfahrbar zu machen.

5.       In dieser Welt erlangt das Charisma des heiligen Johannes von Gott eine neue, ungeahnte Aktualität, die es hervorzuheben und zur Wirkung zu bringen giltimpresionante. Der Orden hat sich mutig und entschieden auf den Weg der Erneuerung gemacht, der ihm vom Zweiten Vatikanischen Konzil gezeigt wurde. Er hat sich gründlich über Wert und Zweck seines Charismas in dieser Zeit befragt und sich neue Aufgaben und Ziele gesteckt. Auf diese Weise hat er dem Charisma des heiligen Johannes von Gott ein neues Gesicht verliehen[4]. Doch wir dürfen nicht stehen bleiben, vielmehr ist kreative Phantasie gefragt, die wir ganz besonders bei den jungen Generationen suchen müssen. Auch in den neuen zeitgeschichtlichen Gegebenheiten muss der Orden inmitten einer globalen Welt, in der sich die Schwerpunkte verlagert haben, die Fähigkeit haben, neue Antworten zu finden und neue Wege des Geistes zu gehen. Außer den Brüdern klopfen auch andere Menschen an die Tür des Ordens, die sich vom Charisma des heiligen Johannes von Gott beschenkt fühlen. Aus diesem Grund haben wir heute im Orden ein neues „Miteinander in der Sendung und in der Spiritualität“, wie eine neuere Definition der Identität des Ordens besagt. Der Orden hat heute ein vielgestaltiges, multikulturelles und vielrassiges Gesicht[5] und möchte das spirituelle Wegangebot des heiligen Johannes von Gott immer mehr Menschen auch außer dem westlichen Kulturkreis zugänglich machen.

6.       Das Wagnis, uns dem spirituellen Reichtum der Nationen und Kulturen zu öffnen, ohne auf das spirituelle Erbe zu verzichten, das wir empfangen haben, gibt unserem historischen Charisma als Orden einen neuen Atem. Bei den jungen Generationen stellt man ein starkes kulturelles Bedürfnis fest. Zugleich gibt es eine kulturelle Kluft zwischen den Generationen, die nicht unterschätzt werden darf. Nur wer offen für seine Umwelt bleibt, ist imstande, junge Menschen angemessen zu verstehen und bei ihrer Suche nach Sinn und Idealen zu begleiten. Wir stehen heute vor neuen unbekannten Herausforderungen. Es genügt nicht mehr, das Charisma als überliefertes Erbe anzunehmen. Vielmehr muss es neu gestaltet, neu geformt und zeitgemäß interpretiert werden. Wir müssen nicht nur die Herzen der Brüder, sondern auch der Gesellschaft, der Leute, der Kirche dafür „entflammen“. Die Aufgabe, unsere Spiritualität neu zu gründen und zu begründen, hat keine Aussicht auf Erfolg, wenn wir nicht fest davon überzeugt sind, dass der Geist mitten unter uns wirkt und uns gnadenvoll mit dem beschenkt, wonach wir leidenschaftlich suchen. Das Einzige, was er als Gegengabe dafür verlangt, ist, dass wir hellhörig, empfänglich und offen für die neuen Wege sind, die er uns zeigt.

7.       Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die wesentlichen Elemente der Spiritualität des Ordens in dem neuen zeitgeschichtlichen Kontext und ethnischen und kulturellen Pluralismus aufzuzeigen, in dem er lebt und wirkt. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile:

I. Geschichtliches und kulturelles Gedächtnis: odie Ursprünge unseres Charismas

II. Evangelische Schlüssel: Barmherzigkeit und Hospitalität

III. Geistlicher Weg: eine Spiritualität der Hospitalität für unsere Zeit


I.  Geschichtliches und Kulturelles Gedächtnis:

Die Ursprünge unseres Charismas

 

8.       Wenden wir uns nun dem spirituellen Weg des heiligen Johannes von Gott zu, denn in ihm ist der „Weg unserer Spiritualität“ vorgezeichnet und vorgestaltet.

 

1. Der spirituelle Weg des heiligen Johannes von Gott

9.       Johannes von Gott war ein suchender, unsteter Mensch: lange Wanderschaften und Reisen kennzeichneten sein Leben. Sie waren Vorausdeutungen auf seine spätere, innere Pilgerschaft, auf seinen spirituellen Werdegang. Das Leben von Johannes von Gott war ein ständiges Unterwegssein: barfuß erklomm er auf einem steilen Weg[6] den Gipfel seines Lebens. Paradoxerweise erstieg er diesen Gipfel, indem er in die tiefsten Abgründe menschlichen Seins hinabstieg. In seinem Leben können vier Etappen unterschieden werden, die wir wie folgt überschrieben haben: Leere, Berufung, Veränderung und Gleichgestaltung mit Christus.

 

a) Leere: Raum schaffen für die Gnade – erste Etappe

10.     Durch eine Reihe von Misserfolgen machte Johannes von Gott die Erfahrung der Leere und entdeckte gleichzeitig die Fülle Gottes: “Gott werde allen Dingen dieser Welt vorgezogen!”[7] Er scheiterte kläglich bei seinem ersten Versuch als Soldat, bei dem er – wie der heilige Paulus – bewusstlos zu Boden stürzte und ihm in seiner Not nur mehr der Himmel zu Hilfe eilen konnte[8]. Er scheiterte wiederum als Soldat, als ein Offizier befahl, ihn an einem Baum aufzuhängen, weil er sich die Kriegsbeute entwenden lassen hatte. Obwohl er der Strafe im letzten Augenblick entging, wurde er aus dem Lager verstoßen und der Armut preisgegeben. Auf dem Weg von Fuenterrabía nach Oropesa klagte er, “wie schlecht die Welt denen, die ihr folgen, dies lohnt”[9]. Es folgen erneut Jahre der Stille, bis Johannes sich wieder beim Heer des Kaisers meldet, um gegen die Türken zu kämpfen.Estando allá Aus Wien zurück, geht er in La Coruña an Land. Die Nähe zur Heimat lässt in ihm den Wunsch erwachen, seine Eltern wiederzusehen, von denen er im Alter von acht Jahren getrennt worden war. Doch groß war sein Schmerz, als er erfuhr, dass beide gestorben warensintió .[10] Er spürte eine große Leere und macht erstmals die schmerzliche Erfahrung der Vergänglichkeit des Lebens[11]: “Selbst wenn die ganze Welt unser wäre, würden wir uns nicht mit dem zufrieden geben, was wir haben.[12] Deshalb beschloss er, “sein Vertrauen nicht auf sich selbst zu setzensi[13].

 

b) Berufung: zum Dienst an Gott – zweite Etappe

11.     Sein Onkel bot ihm an, sich in seinem ehemaligen Elternhaus niederzulassen, doch er lehnte mit folgenden Worten ab: “Herr Onkel, da es Gott gefallen hat, meine Eltern zu sich zu rufen, möchte auch ich nicht in diesem Land bleiben, sondern einen Platz suchen, wo ich dem Herrn dienen kann... Ich vertraue fest auf meinen Herrn Jesus Christus, dass er mir die Gnade gewährt, diesen meinen Wunsch in die Tat umzusetzen.”[14] Und so setzte er seine Suche fort und verdingte sich erneut als Hirte in Sevilla.Da er damals noch nicht den Weg sah, den der Herr ihm für seinen Dienst zeigen wollte”, war er traurig[15]. Schließlich brach er endgültig mit dem Hirtendasein und ging nach Ceuta. Dort verdingte er sich, um eine verarmte Familie zu unterstützen, als Handlanger bei den “Befestigungsarbeiten der Stadtmauern” und „übergab allabendlich bereitwillig den Tageslohn.”[16] Er überwand eine schwere spirituelle Krise mit der Hilfe eines weisen Ordensmannes, der im ausdrücklich befahl, sofort das Land zu verlassen und nach Spanien zurückzukehren. In Gibraltar legte er eine Generalbeichte ab und bat Gott erneut unter Tränen, ihm inneren Frieden und Ruhe zu schenken sowie den Weg zu dem Dienst zu zeigen, dem er sich widmen wollte: Schenke mir Frieden und Ruhe”. Sein Bitten wurde immer eindringlicher, seine Bereitschaft immer radikaler: Zeig mir den Weg, den ich einschlagen soll, um dir dienen und auf immer dein Sklave sein zu können.

Und immer wieder bat er unseren Herrn aus ganzem Herzen und unter vielen Tränen, er möge ihm den Weg offenbaren, auf dem er ihm dienen sollte.” “Ich bitte dich deshalb von ganzem Herzen, mein Herr: Zeig mir den Weg, den ich einschlagen soll, um dir zu dienen. [17]

12.     Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Arbeiten, bis er im Handel mit Büchern, zunächst als fahrender Händler, eine feste Beschäftigung fand. Da er seinem Leben mit dem neuen Beruf, mit dem er, außer sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, auch eine apostolische Tätigkeit und Werke der Liebe entfaltete, eine feste Form geben wollte, fasste er den Entschluss, nach Granada zu ziehen und sich dort niederzulassen.[18] In Granada fand er in der Ausübung seines Berufes eine gewisse Ruhe, doch er hörte weiter eine innere Stimme, die ihn rief und sich nicht überhören ließ. Am Fest des heiligen Sebastian ging er in die Kartause der Märtyrer, um zusammen mit einer großen Menschenschar der Predigt von Meister Johannes von Avila zu lauschen.[19] Dort erwartete ihn der Herr.

13.     Meister Avila wurde zu seinem SeelenführerUn día e. Die Art, in der dieser kluge Mann die Schriftworte von Lukas 6, 17-32 (Seligpreisungen und Weherufe) auslegte, gingen ihm zutiefst zu Herzen:

“Nach der Predigt ging Johannes hinaus und bat, völlig außer sich, Gott mit lauter Stimme um Erbarmen... Er ging bis zu seinem Haus, wo er den Laden und sein ganzes Hab und Gut hatte... und verschenkte mit offenen Händen seine Bücher an den Nächstbesten, der um der Liebe Gottes willen darum bat... Genauso verfuhr er mit den Bildern und mit allem, was er sonst noch im Haus hatte... In kurzer Zeit stand er ohne Geld und ohne jeden Besitz da. Denn er beschränkte sich nicht nur darauf, sondern zog auch die Kleider, die er am Leib trug, aus und verschenkte sie y hasta de sus propias ropas... Und in diesem Zustand, fast unbekleidet, barfuß und ohne Kopfbedeckung, lief er erneut durch die Hauptstraßen von Granada, indem er mit lauter Stimme rief, dass er entblößt dem entblößten Christus folgen und ganz arm werden wollte für den, der sich arm gemacht hat, um seinen Geschöpfen den Weg der Demut zu zeigen, obwohl er doch der Reichtum aller Geschöpfe ist”[20].

 

c) Veränderung: umgestaltet vom Wort Gottes  – dritte Etappe

14.     Von diesem Augenblick an nimmt die Berufung von Johannes von Gott dergestalt Form an, dass er unbekleidet dem unbekleideten Christus nachfolgen will und sich ganz arm machen will für den, der sich für ihn arm machtea partir de este momento .

“Einige hochgestellte Personen, die ihn sahen... und erkannten, dass es sich nicht um eine Geistesstörung handelte, wie man allgemein annahm, brachten ihn in die Wohnung von Pater Avila... Pater Magister Avila dankte unserem Herrn von ganzem Herzen für die deutlichen Zeichen der Zerknirschung, die er bei dem neuen Büßer sah... Er sagte: Bruder Johannes, sucht Halt bei unserem Herrn Jesus Christus und vertraut auf seine Barmherzigkeit; denn da er dieses Werk begonnen hat, wird er es auch vollenden. Seid treu und standhaft in dem, was ihr begonnen habt... Und nun geht in Frieden mit dem Segen des Herrn und mit meinem, denn ich bin sicher, dass euch Gott seine Barmherzigkeit nicht versagen wird. Johannes von Gott ging zutiefst getröstet und ermutigt von den Worten jenes heiligen Mannes davon und schöpfte daraus neue Kraft... Zugleich erwachte in ihm erneut der Wunsch, dass ihn alle für verrückt, böse sowie jeder Verachtung und Schmach wert ansehen möchten, um so noch besser Jesus Christus dienen und gefallen zu können; denn er lebte nur für seine Augen.” [21]

“Als ihn zwei rechtschaffene Männer der Stadt in diesem Zustand sahen, wurden sie von Mitleid ergriffen lund brachten ihn in das Königliche Hospital. Dort wurden die Geisteskranken der Stadt eingewiesen und gepflegt... cDa aber die Behandlung, die man gewöhnlich in diesen Häusern solchen Menschen zuteil werden lässt, darin besteht, dass man sie auspeitscht, in Fesseln legt und ähnlichem, damit sie durch Schmerz und Strafe von ihrer Wildheit ablassen... banden sie ihm Hände und Füße, entkleideten ihn und gaben ihm mit einer doppelt geflochtenen Peitsche zahlreiche Schläge...”[22]

15.     Im Königlichen Hospital fand Johannes von Gott endlich die Antwort auf seinen sehnlichen Wunsch, wo und wie er dem Herrn dienen sollte. Die Erfahrung, zu den Menschen gezählt zu werden, welche das kostbarste menschliche Gut – den Verstand – verloren haben und dadurch abgrundtiefer Verachtung auf einer Seite und herabschauender Bemitleidung auf der anderen preisgegeben sind, erinnerte ihn an den Leidensweg, den Christus ertragen musste, um die Menschheit zu retten. Er erkannte, dass es notwendig war, das menschliche Elend am eigenen Leib zu erfahren und die Verachtung jener zu ertragen, die sich für klug und normal halten. Um kranken, armen und geistesgestörten Menschen wieder ihre Menschlichkeit zu geben, war es notwendig, sich zu einem von ihnen zu machen. Nur so konnte der Welt gezeigt werden, dass auch sie Menschen und Kinder Gottes wie alle anderen sind.

“Und als er sah, wie die anderen Kranken, die zusammen mit ihm als Geisteskranke eingeschlossen waren, gezüchtigt wurden, sprach er:„Jesus Christus möge mir die Zeit schenken und die Gnade gewähren, dass ich ein Hospital habe, in dem ich die armen Menschen, die verlassen und der Vernunft beraubt sind, sammeln kann, um ihnen zu dienen, wie ich es wünsche.”[23]

16.     „Seine Krankheit bestand darin, dass er von der Liebe Christi verwundet war.[24] Das war die Gnade, „die Gott ihm gewähren wollteavia.[25] So entdeckte Johannes von Gott den Weg, nach dem er so lange gesucht und gestrebt hatte: Er wollte sein wie die Armen und Kranken und dasselbe Schicksal wie sie erfahren und erleiden.

 

d) Gleichgestaltung: arm wie Jesus und die Armen – vierte Etappe

17.     Zu Beginn seines neuen und endgültigen Weges sammelte und verkaufte er Holz. Mit dem Erlös kaufte er sich das Notwendigste, den Rest gab er den Armen. Sein Zuhause wurden die Plätze und Straßen von Granada, auf denen er mit den Entrechteten Hitze und Kälte, Ängste und Hoffnungen teilte. Um das Leiden und Elend seiner Brüder zu lindern, fasste er den Entschluss, ein Bettler zu werden und rief fortan mit lauter Stimme: “Wer tut sich selbst Gutes? Tuet Gutes aus Liebe zu Gott, meine Brüder in Jesus Christus![26]

18.     Als er die Armen sah, die er nachts, frierend und ohne Kleidung, über und über mit Wunden bedeckt und krank, auf dem Boden unter den Lauben liegend antraf... wurde er von Mitleid ergriffen und beschloss, ihnen mit noch größerer Entschiedenheit Hilfe zu verschaffen.[27] Mit der Hilfe einiger frommer Personen mietete er ein Haus, stattete es mit dem Notwendigsten aus und begann Arme dorthin auf seinen Schultern zu tragen, so viele er in der Stadt fand.[28] Damit erfüllte ihm Christus den Wunsch, ein Hospital zu haben, wo er sich um die kranken Armen kümmern konnte, wie es ihm sein Herz befahl.

19.     Für Johannes von Gott ist das Hospital ein heiliger Ort, ein Haus Gottes. Es soll allen verlassenen Menschen ohne Unterschied offen stehen und Zuflucht bieten, denn Gott lässt über alle seine Sonne aufgehen. Vor allem aber soll darin der Gast „Herr“ und Johannes sein Sklave sein:

Da diese Stadt sehr groß und sehr kalt ist, besonders jetzt im Winter, sind die Armen, die zu diesem Haus Gottes kommen, zahlreich... Es werden alle Arten von Kranken und auch alle Arten von Menschen aufgenommen. Es gibt hier deshalb Versehrte, Verletzte, Aussätzige, Stumme, Verrückte, Gelähmte, mit Krätze Behaftete, sehr alte Menschen und viele Kinder; überdies viele Pilger und Reisende, deren Weg zu uns führt“.[29]

20.     Die Menschen waren erstaunt und verstanden nicht, dass unser Herr ihn in den Weinkeller gestellt und dort mit seiner Liebe gezeichnet hatte.[30]

Johannes erkannte immer klarer die “unendlich große Barmherzigkeit Gottes” und machte sich zu gestaltgewordenem Erbarmen und Schenkene: “Er half allen entsprechend ihren Nöten und schickte keinen ungetröstet weg.”[31] “In Anbetracht des Vielen, das er vom Herrn empfangen hatte, erschien ihm alles, was er tat und gab, als wenig... So lebte er mit der den Heiligen eigenen Unruhe, sich auf tausendfache Weise hinzugeben.”[32] Die Leute sagten von ihm: “Getragen von einer unendlich großen Barmherzigkeit, lebte er in ständiger inniger Gottzugewandtheit.[33]Er war unermüdlich bemüht, Barmherzigkeit zu üben und Almosen zu geben.[34] Oft verbrachte er ganze Nächte, in denen er den Herrn “um Hilfe für die Nöte bat, welche er sah.”[35] Johannes von Gott erkannte, dass “alles Gute, das die Menschen tun, nicht ihr, sondern Gottes Verdienst ist. Gott sei die Ehre und die Herrlichkeit, denn alles ist sein. Amen, Jesus.”[36] Deswegen “quantoerschien ihm alles, was er tat und gab, als wenig ”[37], denn er lebte eingetaucht in der unermesslichen Weite der Barmherzigkeit Gottes, “der so hochherzig und freigiebig zu ihm gewesen war.”[38] Sein größter Schmerz war, anderen nicht helfen zu können. Das brach ihm das Herz.[39] “Tatsächlich war Johannes so betrunken von der Liebe Gottes, dass er nichts verweigern konnte... denn er war grenzenlos barmherzig zu allen.”[40] Johannes von Gott aß gewöhnlich “eine gekochte Zwiebel oder andere Speisen, die nur ganz wenig kosteten” und schlief “ auf einer einfachen Matte auf dem Boden, wobei ihm ein Stein als Kissen diente, und deckte sich mit dem Überrest einer alten Decke zu. Manchmal verbrachte er die Nacht auch in einem ganz engen Raum unter einer Treppe.”[41] In einem Winkel unter der Treppe des Hospitals teilt er die Armut mit seinen Armen.Para Juan de Dios el hospital es lugar sagrado, casa de Dios. Él es su esclavo. La abre a todos los pobres desamparados sin distinción, porque Dios para todos hace salir su sol. El pueblo no entendía, asombrado, cómo “le avía el Señor metido en la bodega del vino y allí ordenado con él su caridad”.

Viendo los pobres “por essosesos portales echados, eladoshelados y desnudos y llagados y enfermos”, “començócomenzó a llevar pobres acuestas, de todas quantascuantas maneras hallavahallaba por la çiudad[42].

21.     Eines Tages entdeckt er, dass er mehr Leiden lindern kann, wenn er sich selbst verpfändet, sprich dass man ihm Geld leiht, wenn er dafür mit seiner Person als Bürgschaft einsteht. Er zögert keinen Augenblick und leiht sich Geld, das er sich zurückzuzahlen verpflichtet. Die Schulden vermehren sich. Trotzdem nimmt er immer mehr auf, bis er “mehr als zweihundert Dukaten schuldet.”[43] Doch die Probleme sind damit noch lange nicht gelöst, denn „jeden Tag vergrößern sich die Schulden und die Zahl der Armen in ungeheurer Weise.”[44] Die Schulden sind schließlich so hoch, dass die Gläubiger ihm die Tür verschließen: “Man will mir keinen Kredit mehr gewähren, da ich schon so viel schulde.”[45] Er steckt in einer schmerzvollen Zange: seine Schulden auf einer Seite und die Not der vielen Armen auf der anderen lassen ihn keine Ruhe mehr finden. “Da ich mich in solcher Not sehe, wage ich mich oftmals nicht einmal mehr aus dem Haus, wegen der Schulden, die mich bedrücken, während ich so viele Kranke, die doch meine Brüder und Nächsten sind, in Not sehe.”[46]

22.     Im Gebet findet er Zuflucht und den Sinn seines Tuns: “Und so sorge ich mich hier allein um Jesus Christusjesuchristo.”[47] Diese Sorge wird für ihn Gebot und Pfand, eine Kette, von der er sich Zeit seines Lebens nie mehr befreien wird und nie mehr befreien will. Kurz bevor er stirbt, übergibt er dem Erzbischof von Granada, Don Pedro Guerrero, ein Heft, „in dem die Schulden aufgezeichnet sind, die ich aus Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus gemacht habe.”[48] “Da er nun spürte, dass seine Stunde gekommen war, stand er vom Bett auf, kniete sich auf dem Boden nieder, umarmte ein Kreuz und sagte dann nach kurzem Schweigen: „Jesus, Jesus, in deine Hände übergebe ich mich.”[49]

23.     Johannes von Gott wurde mit großen Leiden und Entbehrungen geprüft. Wie Jesus machte er sich zu einem Toren und wurde für seine Treue mit der Gabe wahrer Weisheit belohnt: Er erkannte, dass die Würde der menschlichen Person letztendlich im Reichtum des Herzens gründet, und entdeckte, wie Jesus, dass der Kampf gegen das Böse und das Leiden ein menschlicher Imperativ ist. Wie er, opferte er sich dafür auf, allen Gutes zu tun und zeigte dabei eine besondere Vorliebe für die gesellschaftlichen Gruppen, die am meisten diskriminiert wurden: Kranke aller Art, Sünder, Prostituierte.... auch wenn er dafür verachtet und verleumdet wurde. Wie Jesus blickte er auf die Menschen mit liebevollen und barmherzigen Augen. Dank seiner grenzenlosen Liebesfähigkeit steckte er andere damit an, wurde zum Bruder aller Menschen und begründete so einen Weg der Solidarität im Zeichen der Hospitalität. Wie Jesus stieg er in die tiefsten Abgründe menschlichen Seins hinab, indem er sich in das Königliche Hospital einsperren ließ. Im Königlichen Hospital sprach Gott zu ihm aus den Schreien, Klagen und der Verzweiflung seiner Leidensgefährten und antwortete so auf sein langes Suchen. Endlich wusste er, wie er “entblößt dem entblößten Christus folgen und ganz arm werden wollte für den, der sich arm gemacht hat, um seinen Geschöpfen den Weg der Demut zu zeigen, obwohl er doch der Reichtum aller Geschöpfe ist[50].

Zusammenfassung: Der spirituelle Werdegang des heiligen Johannes von Gott führte von der bitteren Härte der Selbstaufgabe bis zum Selbstverlust in der geistigen Umnachtung, in der er die unermessliche Liebe Jesu Christi erfuhr. Diese Erfahrung schenkte ihm die Kraft zu einem Dasein an der Seite der Armen und Entrechteten der untersten Schichten von Granada. Seinem heiligen Meister nacheifernd gelangte er so zu einer mystischen Identifikation mit den Ärmsten und Schwächsten, indem er sich mit ihnen bis in den Tod erniedrigte und ihre Leiden auf sich nahm.

 

2. Tradition: Überlieferung des Geistes unseres Stifters und Vaters

a) Vater und Bruder im Geist: die ersten Brüder

25.     Die Gabe des heiligen Johannes von Gott besaß eine große Ausstrahlungskraft. Sein Geist teilte sich anderen mit. Seine Liebe zu den Armen und Kranken erweckte bei vielen Menschen den Wunsch, sich seinem Werk der Liebe anzuschließen. Die meisten unterstützten ihn mit Almosen; viele andere arbeiteten mit ihm im Dienst an den Hilfsbedürftigen zusammen; einige wenige beschlossen, zusammen mit ihm einen neuen Weg der Nachfolge Jesu Christi zu beschreiten. Mit diesen Gefährten gründete er eine Brüdergemeinschaft, der zu Beginn als Lebensregel seine Lebensform genügte.

26.     Johannes von Gott wusste aus eigener Erfahrung, dass der Mensch, der Jesus Christus in seinen Armen dienen will, sich auf einen mühsamen Weg macht. Diejenigen, die mit ihm und wie er leben wollten, erinnerte er mit einfachen, aber unmissverständlichen Worten an diese Tatsache. Sie mussten bereit sein, sich von sich selbst loszulösen wie der hl. Bartholomäus: Sie zogen ihm die Haut ab, und er nahm seine Haut auf die Schultern.[51] Sie mussten Zweifel und Unsicherheiten überwinden:, durften nicht mehr wie ein Schiff ohne Steuer, ein lockerer Stein[52] sein, sondern sich ihrer Schwächen und Unzulänglichkeiten bewusst werden, um nicht Opfer einer momentanen Begeisterung zu werden, denn künftig erwarteten sie Mühen und Tage voller Leid“, in denen sie einzig und allein darauf bedacht sein mussten, „all das Gute zu tun, dessen ihr fähig seid.[53] Deswegen riet er, sich Zeit zu nehmen für die Berufsentscheidung und dieses Anliegen ganz dem Herrn anzuempfehlen[54], wobei er zur Vorbereitung eine Zeit persönlicher Askese für sinnvoll hielt: Es wird gut sein, dass Ihr Euch ein wenig das Fleisch abschabt..., dass Ihr Hunger und Durst leidet und Schande und Erschöpfung und Ängste und Mühsal und Ärger..., denn wenn Ihr hierher kommt, müsst Ihr alles das um der Liebe Gottes willen ertragen.“[55] Voraussetzung dafür waren ein inniger Umgang mit Gott und der häufige Empfang der Sakramente: Bleibt alle Tage Eures Lebens mit Gott verbunden. Hört immer die ganze Messe und beichtet – wenn möglich – oft.[56] Kurz, wer seinen Lebensstil übernehmen wollte, musste sich in einem tiefgehenden Lernprozess mit Jesus Christus auseinandersetzen und vertraut machen, damit er zur selben radikalen Ganzhingabe an Gott und den Nächsten fähig war, und durfte sich nicht mit Halbheiten zufrieden geben, sondern musste nach der höchsten Form der Liebe streben: Gedenkt unseres Herrn Jesus Christus und seines geheiligten Leidens, der das Übel, das sie ihm antaten, mit Gutem vergalt. So sollt Ihr, mein Sohn, handeln, wenn Ihr in das Haus Gottes kommt.[57] Er verbirgt die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die damit verbunden sind, nicht: „Denn wenn Ihr hierher kommt,... , habt Ihr viel zu gehorchen und noch viel mehr zu leiden... denn dem Lieblingssohn weist man die schwersten Arbeiten zu... Denn wenn Ihr hierher kommt, müsst Ihr alles das um der Liebe Gottes willen ertragen. Für alles sollt Ihr Gott vielen Dank sagen, für das Gute und für das Böse.[58] Als wichtigste Richtschnur, die allem anderen erst Sinn verleiht, empfiehlt er, dem eigenen Fühlen, Denken und Handeln folgende Einsicht zugrunde zu legen: Liebt unseren Herrn Jesus Christus über alles auf der Welt, denn, wie viel Ihr ihn auch liebt, er liebt Euch mehr. Bleibt immer in der Liebe, denn wo keine Liebe herrscht, ist Gott nicht – wenngleich Gott überall ist.[59]

27.     Johannes von Gott suchte Brüder, die von der Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes genau so gezeichnet waren wie er,[60] denn er wusste, dass erst auf der Grundlage einer solchen Erfahrung eine innige Liebesfähigkeit wachsen und sich hilfsbereite, treue und verständnisvolle Menschen entwickeln können, die zu Vergebung und Versöhnung bereit und geschlossen untereinander sind. Seine Lebens- und Handelnsweise vermittelte ihnen eine unerschütterliche Glaubensfestigkeit und Überzeugtheit vom Wert des empfangenen Charismas. So bot sich den Einwohnern Granadas schon bald folgendes Bild: Die Brüder gehen durch die Straßen und lesen die Armen auf und tragen sie auf ihren Armen oder Schultern in das Hospital, wo sie sie mit großer Liebe pflegen... Es ist allgemein bekannt, dass die Brüder, wo immer sie einen Armen auf der Straße liegen sehen, ihn auf ihre Schultern laden und ins Hospital bringen.[61] In der Kirche war ein neuer Orden entstanden: der Orden der Barmherzigen Brüder.

 

b) Das Vermächtnis des Geistes der Hospitalität

28.     Die ersten 16. Los primeros hermanos. Juan de Dios contó con dos categorías de colaboradores: benefactores y voluntarios. Entre éstos hubo algunos - sus Gefährten[62]- des heiligen Johannes von Gott hatten an seinem Geist der Hospitalität Anteil und verbreiteten ihnque llevaron el voluntariado hasta sus últimas consecuencias: . Anton Martín war wie ein verlängerter Arm von Johannes von Gott. Er gründete und leitete das „Hospital de Ntra. Señora del Amor de Dios“ inen el Hospital  Madrid, das nach seinem Tod nach ihm benannt wurdetenía .[63]y que él dir Pedro Velasco, der ebenso wie Anton Martín von der Gnade Gottes umgestaltet wurde, zuvor jedoch sein Todfeind gewesen war und seine Hinrichtung verlangt hatte, schloss sich dem Heiligen an, ahmte sein Leben nach und starb im Hospital von Johannes von Gott in Granada. Beide öffneten die Augen für die Barmherzigkeit Gottes dank des barmherzigen Lebenszeugnisses des heiligen Johannes von Gott und sind leuchtende Zeugen dafür, wie im Zeichen der Hospitalität Versöhnung und Geschwisterlichkeit gestiftet werden können. Andere Gefährten wurden von Zeugen ebenfalls als Hospitalbrüder bezeichnet. Sie kennzeichneten sich durch eine große Nähe zu den Armen und Kranken, die sie pflegten, und erkannten in Johannes von Gott ihren Gründeren[64], dessen Hospitalität ohne Grenzen[65] sie nachahmten. Zwanzig Jahre nach dem Tod des Gründers wirkte der Geist der Hospitalität lebendig und frisch wie zu Zeiten des heiligen Johannes von Gott fort.

29.     Dieser Geist ist ein lebendiges Vermächtnis in der Ordensgeschichte geblieben. Als treue Hüter dieses Vermächtnisses sind hier an erster Stelle die Heiligen, Seligen und Ehrwürdigen des Ordens zu nennen: der heilige Johannes Grande, der heilige RiccardoRichard Pampuri, der heilige Benedikt Menni, die zahlreichen Ordensmärtyrer, die vielen Brüder, deren Seligsprechungsverfahren im Gang ist (Francisco CamachoCamacho, Antón MartínJosé OlalloOlallo ValdèsValdés, Eustachius Kugler, William Gagnon) sowie die vielen anderen, die im Lauf der Geschichte wegen ihres Glaubens und der treuen Erfüllung des Dienstes der Hospitalität in Brasilien, Kolumbien, Chile, Polen, Philippinen, Frankreich, Spanien und vor kurzem auch in anderen Ländern verfolgt wurden und teilweise den Märtyrertod starben.

30.     Die Spiritualität des Ordens hat auch in anderen hervorragenden, dynamischen Brüdergestalten zeichenhaft Ausdruck gefunden. Hier sei nur an folgende erinnert: Pedro Soriano (Italien); Giovanni Bonelli (Frankreich); Gabriel Ferrara eund Giovanni Battista Cassinetti (Österreich/Deutschland/MitteleuropaItalia y Alemania) und Francisco Hernández (AmericaLateinamerika). Herausragende Gestalten in der jüngeren Vergangenheit waren außerdem Paul de Magallon (Frankreich), Eberhard Hacke und Magnobon Markmiller (Deutschland), GiovaniGiovanni MariaMaria Alfieri (Italien) und der bereits genannte heilige Benedikt Menni (Spanien, Portugal und Mexiko). Der Geist der Hospitalität wirkte auch in Mitarbeitern fort, welche die Sendung und den charismatischen Geist des Ordens mitgetragen haben.

31.     Die spirituellen Werte, welche diese lange Geschichte geprägt haben, sind ausgehend von der Grunderfahrung des heiligen Johannes von Gott:

Ø        eine tiefe Erfahrung der „Gnade“ und „Barmherzigkeit“ Gottes, die den Menschen erkennen lässt, dass er sündig und vergebungsbedürftig ist, und die Gabe der Hospitalität mit offenen Armen aufnehmen lässt, mit der Gott so freigebig Johannes von Gott und seine Nachfolger beschenkt hat.[66] Johannes von Gott erfuhr die unermessliche Barmherzigkeit Gottes und erwiderte sie mit einem barmherzigen Leben. Besonders wichtig war ihm dabei die Betrachtung des Leidens und Todes Jesu. Dies kommt in ergreifender Weise in folgenden Worten an die Herzogin von Sesa zum Ausdruck: „Wenn wir recht bedenken würden, wie groß das Erbarmen Gottes ist, so würden wir nie unterlassen, das Gute zu tun. Wenn wir um seiner Liebe willen den Armen das weitergeben, was Er uns gibt, verspricht er uns das Hundertfache [...] Wer gäbe nicht alles, was er hat, diesem göttlichen Kaufmann, der mit uns einen so guten Handel macht und uns mit ausgebreiteten Armen bittet, uns zu bekehren und unsere Sünden zu beweinen; und zuerst unseren Seelen und dann denen unserer Mitmenschen Liebe zu erweisen“ (1 DS 13). Wenn Johannes von Gott zur Betrachtung des Leidens des Herrn aufforderte, wollte er damit zum Dank- und Lobgebet ermuntern, die Hoffnung auf Jesus Christus als demjenigen festigen, der uns Trost und Linderung bei Schwierigkeiten und Leiden ist, und dazu einladen, den Armen und Hilfsbedürftigen Gutes und Barmherzigkeit zu erweisen (vgl. 3 DS 8.9; 2 DS 9.19). Der große Stellenwert, den das Leiden Christi seit jeher in unserer Spiritualität hat, geht unmittelbar auf Johannes von Gott zurück.[67]

Ø        Nachfolge des barmherzigen und mitleidenden Jesus[68]: in Jesus erkennen wir den gestalt- und menschgewordenen Gott der Barmherzigkeit, in ihm hat unsere Hospitalität ihren Ursprung (Konst. 20). Wir folgen ihm nach und ahmen seine Zeichen und Gesinnungen nachi (Konst. 2c; 3a). Wir begegnen ihm in der Person und im Antlitz des Kranken und Hilfsbedürftigen, dem wir Aufnahme gewähren und liebevoll umsorgen.

Ø        Verehrung der Jungfrau Maria als lebendigem und hervorragendem Beispiel der Hospitalität durch ihre Verfügbarkeit, Dienstbereitschaft, Fürsprache und mitleidendes Aushalten an der Seite der Leidenden.[69]

Ø        Eine harmonische und alle Seiten unseres Seins umspannende Ausfaltung der Liebe zu Gott und zum hilfsbedürftigen Nächsten.[70]

Ø        Spirituelle Festigkeit bei Hindernissen: die Erfahrung der Gnade entfaltet eine derartige Wirkung, dass keine Schwierigkeit und kein Hindernis imstande sind, das zu unterbrechen, was man für die Armen, Kranken und Hilfsbedürftigen tut.

Ø        Ausstrahlende Hospitalität: Wie Johannes von Gott sind auch seine Nachfolger mit einer Hospitalität beschenkt worden, die eine kraftvolle Ausstrahlung besitzt, dank der es den Brüdern gestern wie heute gelingt, andere Menschen für neue Projekte der Hospitalität zu gewinnen und sie zur Teilhabe an Charisma und Spiritualität des Ordens einzuladen. Die selbsttätige Verbreitungskraft, die unserem Charisma dank seiner Strahlkraft innewohnt, muss Hand in Hand mit einer überlegten Unterweisung der Mitarbeiter im Geist des heiligen Johannes von Gott gehen.

Ø        Die Sorge um den kranken und hilfsbedürftigen Menschen als Beitrag des Ordens zu der einen Sendung der Kirche.[71]

Ø        Professionalität: es gehört seit jeher zur Tradition des Ordens, die Hospitalität harmonisch mit Technik, Wissenschaft und modernen Mitteln je nach den Problemen und Möglichkeiten von Ort und Zeit zu verbinden.

Ø        Opferbereitschaft bis zum Tod: zahlreiche Nachfolger des heiligen Johannes von Gott haben sich durch eine bedingungslose Hingebungsfähigkeit ausgezeichnet, die in einigen Fällen bis zur Hingabe des eigenen Lebens für die Kranken und Hilfsbedürftigen ging. Die Geschichte unseres Ordens kennt eine Vielzahl an heroischen Momenten: Epidemien, Kriege, Gefahren...

Ø        Inkulturation bei den Armen – Hospitalität als Anspruchslosigkeit: die der Hospitalität innewohnende Forderung nach Selbstbeschränkung bzw. „Kenose“ veranlasst die Brüder, auf ein bequemes Leben und jede Form von Größe zu verzichten und sich vielmehr dem bescheidenen Lebensstil der Armen und Kranken anzupassen.

 

3. Das Charisma des heiligen Johannes von Gott heute: Sendung des Miteinanders und Inkulturation

32.     Johannes von Gott teilte die Gabe, die er empfangen hatte, mit allen Arten von Menschen, die sich von seiner christlichen Lebensform und Liebe zu den Hilfsbedürftigen angezogen fühlten: einfachen Leuten, die ihm bei der Arbeit halfen, anonymen Wohltätern und vornehmen Persönlichkeiten, die ihn mit Gütern unterstützten, Priestern, die ihm bei der seelsorglichen Betreuung der Patienten im Krankenhaus halfen, sowie zahlreiche Freiwillige, Ärzte und Mitarbeiter, die gemeinsam mit ihm und den Brüdern die Kranken versorgten.

33.     Die Gabe der Hospitalität, so wie sie von Johannes von Gott gelebt wurde, hat sich ständig weiter verbreitet, auch bei Personen, die nicht von christlichen Werten geleitet sind. Das überlieferte Charisma hat eine erstaunliche Kreativität entfaltet und gemeinschaftliche Leistungen hervorgebracht, mit denen man sich an die verschiedenen Gegebenheiten von Ort und Zeit angepasst hat. Wir erkennen immer deutlicher, dass das Charisma der Hospitalität des heiligen Johannes von Gott nicht mehr nur unter den Zuständigkeitsbereich der Brüder fällt, die sich durch die Profess an den Orden gebunden haben. Man bemüht sich, eine neue Sichtweise des Ordens als “Familie” zu entwickeln. In diesem Sinne nehmen wir in unserer Zeit wie eine willkommene Gabe des Geistes die Möglichkeit auf, unser Charisma, unsere Spiritualität und Sendung mit anderen zu teilen.[72] Diese Entwicklung, die bei uns langsam an Kraft gewonnen hat, ist eine große Herausforderung, denn sie bedeutet, dass wir so durchdrungen von unserem Sendungsauftrag leben müssen, “dass auch unsere Mitarbeiter sich veranlasst sehen, in gleicher Weise zu wirken.[73] Diese Orientierung ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass unsere apostolischen Werke, vor allem in den Industrieländern, immer komplexer werden, sondern auch darauf, dass wir so dem evangelischen Imperativ entsprechen, das, was uns vom Herrn geschenkt wurde, voller Freude mit anderen zum Wohl der Gemeinschaft der Kirche und wirksameren Verkündigung des Evangeliums von der Barmherzigkeit zu teilen.

34.     Unsere Brüder in den Missionen 23. haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sich das Charisma des heiligen Johannes von Gott verbreitet und bei anderen Kulturen Wurzeln gefasst hat. Heute steht ein weiterer Schritt bevor, nämlich der, dass nach der Inkulturation die Verleiblichung des Charismas des Ordens durch einheimische Brüder erfolgen muss. Das verlangt, dass an die Stelle der Formen, in denen die ausländischen Brüder, die als Missionare ins Land kamen, die Weihe in der Hospitalität gelebt haben, die Stile und Formen des jeweiligen Landes treten, wobei natürlich der ursprüngliche Kern und die zeitlosen Werte des Charismas gewahrt bleiben müssen. Diese Forderung stellt sich noch dringender im Bereich des Apostolats, wo die Organisation der sozialen und medizinischen Tätigkeit vom Muster der Ersten Welt hin zu Formen orientiert werden muss, die der jeweiligen Realität entsprechen und sich harmonisch in das jeweilige soziale und kirchliche Umfeld eingliedern, ohne dass dabei auf die Tradition des Ordens verzichtet wird, eine würdige Pflege zu gewährleisten, welche sich die Fortschritte von Wissenschaft und Technik zunutze macht und von qualifizierten Brüdern und Mitarbeitern durchgeführt wird.

35.     Auf diese Weise wird das Charisma des heiligen Johannes von Gott auf einer Seite mit den Werten der verschiedenen Kulturen bereichert und der Orden auf der anderen Seite imstande sein, kritisches Gewissen an den Orten zu sein, wo die medizinische und soziale Versorgung mangelhaft ist, indem er eine gesunde Entwicklung medizinischer und sozialer Strukturen fördert, die allen offen stehen, ganz besonders den Benachteiligsten.


II. Das Fundament: Barmherzigkeit und Hospitalität

als Grundkategorien

36.     Der 20Orden hat das Charisma des heiligen Johannes von Gott in zwei Worten artikuliert, die eng miteinander zusammenhängen: “Barmherzigkeit” und “Hospitalität”.[74] Wir begegnen diesen Worten auch in der Heiligen Schrift. Außerdem handelt es sich um zwei Begriffe, die zwei menschliche Grundwerte zum Ausdruck bringen, welche bei allen Kulturen großes Ansehen genießen. In der Folge sollen zu diesen beiden Kernbegriffen als den Eckpfeilern der Spiritualität des Ordens einige kurze Überlegungen angestellt werden. Zu diesem Zweck soll:

Ø        zunächst die Barmherzigkeit als biblische und anthropologische Kategorie beleuchtet werden;

Ø        sodann werden wir die Hospitalität im biblischen und anthropologischen Sinn untersuchen;

Ø        schließlich soll die Rolle, den diese beiden Grundbegriffe im Zusammenhang mit dem Charisma des Ordens spielen, erhellt werden, wobei wir uns ganz besonders auf die neuen Konstitutionen von 1984 stützen werden.

 

1. Ausgangspunkt: Barmherzigkeit und Hospitalität, Schuld und Gewalt

37.     Barmherzigkeit ist, vor allen anderen Dingen, die Fähigkeit zu Verständnis, Mitgefühl, Vergebung und Versöhnung vor menschlicher Schuld und Sünde. Als Menschen ist uns die Freiheit gegeben, den Willen Gottes zu erfüllen oder gegen seinen Willen und unser Menschsein zu handeln, kurz, den Bund, den Gott mit dem Menschen geschlossen hat, zu brechen. Wer sein Menschsein achtet und sich positiv gegenübersteht, bewirkt Harmonie, fördert seine Selbstentfaltung und schafft ein frohes und solidarisches menschliches Miteinander. Die Missachtung des göttlichen Schöpfungsplans wirkt sich hingegen schwerwiegend auf unser inneres Gleichgewicht aus und zerrüttet es. Es kommt zu Schuldbewusstsein und Schuldgefühlen, von denen alle Dimensionen unseres Lebens in Mitleidenschaft gezogen werden.

Ø        Wenn sich jemand vor Gott schuldig weiß und schuldig fühlt, sprechen wir von Sünde.

Ø        Wenn sich jemand vor sich selbst und den anderen schuldig weiß und schuldig fühlt, sprechen wir von “moralischer” oder “sittlicher” Schuld.

Ø        Wenn jemand eine grundlegende Norm unseres Wertesystems bricht, erwachen n1Schuldbewusstein und Schuldgefühle.

38.     Deswegen ist es falsch, Schuld zu leugnen. Zugleich darf aber auch nicht das Entstehen von übertriebenen Schuldkomplexen gefördert werden, welche die Realität verzerren. Vergeben, im Sinne der menschlichen Fähigkeit, sich selbst und anderen zu vergeben, ist die umfassendste Form, Schuld und Sünde zu überwinden.

39.     Hospitalität ist, vor allen anderen Dingen, die Fähigkeit, für den anderen offen zu sein und ihn anzunehmen. Aus dieser Fähigkeit erwächst dem Menschen spontan eine weitere wichtige Fähigkeit, nämlich die, auf Gewalt zu verzichten. Gewalt gibt es dort, wo Menschen einander den Platz streitig machen und nicht fähig sind, in Frieden zusammenzuleben und sich einander als Personen zu begegnen. Innere Gewaltbereitschaft führt dazu, dass man den Konflikt, die Auseinandersetzung und Entwürdigung des Anderen systematisch sucht. Gewalt aktiviert die schlimmsten Eigenschaften des Menschen und stimuliert seine Aggressivität. Gewalt hat ihren Ursprung nicht im Krieg aller gegen alle, sondern in der Feindschaft einer Menschengemeinde  la– Familie, Dorf, Nation, Religionsgemeinschaft, Kulturgemeinschaft – gegen Fremdes und Fremde. Wo eine solche gewaltsame Einstellung zum allgemeinen Gesetz wird, sieht man sich gewöhnlich als alleinigen Repräsentanten der Zivilisation und bekämpft alles Andersartige. Gewalt entsteht dort, wo Andersartigem und Fremdem das Lebensrecht verweigert wird.

40.     Es gibt auch religiöse Gewalt. Sie entsteht, wenn eine Gruppe behauptet: “Gott ist mit uns!” und seine Gegenwart bei Fremden leugnet. Wer überzeugt ist, dass Gott ausschließlich mit ihm ist, nimmt für sich alle Rechte in Anspruch. Diese Einstellung führt zu einem gefährlichen egoismoEgoismus, der sich unter dem Deckmantel religiöser Motive verbirgt: “Meine Existenz verlangt die Auslöschung des Anderen.” Deswegen ist Gewalt, die aus Glaubensgründen ausgeübt wird, radikal fundamentalistisch und lebensbedrohlich für Andere, aber auch äußerst destruktiv für diejenigen selbst, die sie ausüben. Nur die Annahme des Anderen, des Fremden, die Hospitalität – also Fremdenfreundlichkeit und nicht Fremdenfeindlichkeit – setzt der Gewalt ein Ende.

 

2. Die Barmherzigkeit

a) Der Gott der Barmherzigkeit

41.     Die wichtigste Eigenschaft Gottes ist nach dem Alten Testament die Barmherzigkeit und nicht die Gewalt.[75] Die Barmherzigkeit ist unermesslich größer als sein Zorn: “Einen Augenblick nur verbarg ich vor dir mein Gesicht in aufwallendem Zorn, aber mit ewiger Huld habe ich Erbarmen mit dir” (Jes 54, 8). Die Stelle, die am besten die Barmherzigkeit als grundlegenden Wesenszug Gottes zum Ausdruck bringt, findet sich in Ex 34, 6-7:

“Der Herr ging an ihm vorüber und rief: Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber den Sünder nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.”

42.     Gott wird hier als “Rahum” bezeichnet, also als jemand, der von einer innigen, mütterlichen, herzlichen Liebe erfüllt ist. Diese barmherzige Liebe ist geschenkte Liebe und nicht Erwiderung auf etwaige Verdienste. Sie ist eine Forderung, die aus dem Herzen selbst kommt. Barmherzigkeit ist also Güte, Herzlichkeit, Geduld, Verständnis und Vergebungsbereitschaft auch und gerade bei Übertretungen des göttlichen Gesetzes..

43.     Tatsächlich zeigt sich die Barmherzigkeit gerade dort, wo der Mensch den Bund mit Gott bricht. Jedes Mal wenn sich das Volk Gottes seiner Untreue bewusst wurde, rief es die Barmherzigkeit Gottes an. Die Bündnisbrüche bewirkten den Zorn und Groll Gottes. Doch mit den Propheten (ExequielEzechiel und Jesaja) verwandelten sich die Drohungen in trostvolle Verheißungen und barmherzige Kundgebungen , in Evangelium (Gute Nachricht) für die Armen (Jes 40; 61).

 

b) Die Menschwerdung des barmherzigen Gottes

44.     In Phil 2, 6-11 lesen wir: Gott “entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod am Kreuze.” Der allmächtige Gott verzichtet auf seinen Machtanspruch: Ich aber bin unter euch wie der, der bedient" (Lk 22, 27; vgl. Mt 22, 25-28). Der allmächtige Gott zerstört nicht mechanisch das Böse und den Tod, sondern nimmt sie auf sich . Deshalb nimmt unser Gott vor dem Leiden der Unschuldigen und den absurden Seiten des Lebens die Gestalt unbesiegbarer Schwäche an. Gott macht sich dem Schwachen gleich und leidet mit dem Menschen. Das Leiden wird so zum Brot, das Gott mit uns teilt. Die göttliche Barmherzigkeit ist das Bußwerk Gottes, die Schwäche Gottes. Die Schwäche Gottes entspricht der Schwäche des Menschen. Deswegen dürfen wir uns von ihm immer Vergebung erwarten, denn erst im Erbarmen zeigt sich unser Gott dem Menschen in seinem ganzen Gottsein.

45.     Das Neue Testament stellt uns Jesus als großherzigen Vergeber dar, als jemand, der Heil und Heilung durch Vergebung wirkt. In ihm kommt die Barmherzigkeit Gottes zur vollen Wirkung. Gerade in einer so wichtigen Sache wie der Vergebung, die allein Gott zuzustehen scheint (vgl. Mk 2, 7; Lk 15), tritt Jesus besonders augenscheinlich an die Stelle von Gottvater.  Jesu Sorge gilt dem ganzen Menschen. Er dringt bis in sein Innerstes, bis in die entlegensten Winkel des menschlichen Herzens vor, ohne sich dabei jedoch nur der Seele bzw. der Psyche zuzuwenden, sondern sieht ihn stets als leib-seelische Einheit. “Jesus selbst war die Therapie, die er anwandte” (Hanna Wolff). Durch die Vergebung löst Jesus bei den Betroffenen einen Prozess vollkommener Wiederherstellung aus. In Jesus offenbart sich die Barmherzigkeit. Jede Form von Gewalt liegt ihm fern. Die Menschwerdung ist die Erniedrigung Gottes (Kenose Gottes), ist das Zeichen dafür, dass Gott nicht Gewalt ist, sondern die Schwäche liebt und sich selbst schwach macht. Jesus trat nicht in der Gestalt einer außergewöhnlichen heiligen Persönlichkeit auf, vielmehr „war sein Leben das eines Menschen” (Phil 2, 7) von dieser Welt. Jesus wird zum Bruder aller Menschen ohne Ausnahme. Er liebt alle, weil er ein getreues Bild Gottes ist und Gott ist die Liebe (1 Joh 4, 7). Er lehnt kompromisslos jede Form von Gewalt ab und stellt seinen Vater nicht als gebietenden Herrn dar, sondern als Freund, nicht als Herrscher, sondern als Diener, und verkündet, dass die wesentlichen Dinge nicht den Weisen, sondern den Kleinen geoffenbart werden  (Mt 11, 25; Lk 10, 21). Der Leitfaden, der sich durch die Heilsgeschichte zieht, die Jesus begonnen hat, ist, dass das Starke sanft werden und auf Gewalt und Machtdenken verzichten muss. Deswegen fordert Jesus unermüdlich alle auf, zu vergeben und immer wieder von neuem zu vergeben (bis siebenundsiebzigmal, Mt 18, 22).  Jesus erweist sich so als großer Erzieher, der hin zu ruhigen Quellen führt und lehrt, wie gesellschaftliche und überbrachte Gewalt überwunden werden können.

46.     Das Loblied, mit dem der Brief an die Epheser beginnt, preist die Größe Gottes, die insbesondere darin gesehen wird, dass er uns - in und durch Jesus - Vergebung von den Sünden gewährt. Während die schenkende Liebe eine der überraschenden Seiten an Gott ist, macht die Barmherzigkeit ihn uns zugänglich und nahe. Unser Gott ist in der Tat nicht nur ein gebender Gott, sondern auch und vor allem ein vergebender, ein barmherziger Gott. Gerade die Barmherzigkeit macht das Wesen unseres Gottes und seiner Gegenwart unter den Menschen aus. “Wer außer Gott kann Sünden vergeben?” (Lk 5, 21; Mk 2, 7). Jesus tritt ganz besonders unter diesem Aspekt an seine Stelle. In der Menschwerdung des Sohnes Gottes findet die Barmherzigkeit ihren höchsten Ausdruck. Der Abba Jesu ist “der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes” (2 Kor 1, 3), ein Gott “voll Erbarmen” (Eph 2, 4).

47.     Die Identifikation Jesu mit den Menschen, besonders denjenigen, die an Hunger und Durst leiden, die fremd, obdachlos, krank und im Gefängnis sind oder sonst wegen einer Not leiden (Mt 25, 34-45), zeigt, wie groß die Barmherzigkeit ist, die er verleiblicht, so groß, dass er selbst Opfer der Gewalt wird, welche jene erleiden, mit denen er sich identifiziert. Doch mit ihm kennt man kein Erbarmen, so dass er sich am Kreuz schmerzvoll fragt: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” (Mt 27, 45). Sein Gebet wurde erhört und mündete in die Auferstehung. Er erwachte im Schoß des Vaters wieder: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt (vgl. Ps 2, 7; Hebr 1, 5). Aus dem barmherzigen Schoß des Vaters wurde er für die Ewigkeit geboren.

 

c) Die Barmherzigkeit im Charisma des Ordens

48.     Die „Barmherzigkeit“ ist der Eckpfeiler des Charismas und der Spiritualität des heiligen Johannes von Gottla [76] und seines Ordens[77]. Wir wollen in der Kirche eine lebendige, gemeinschaftliche Darstellung der Barmherzigkeit sein.

Ø        Ausgangspunkt: Wir sind uns bewusst, dass wir in dem Maß barmherzig zu sein imstande sind, in dem wir uns, wie einst Johannes von Gott, von der Barmherzigkeit Gottes ansprechen und durchdringen lassen: “Wenn wir recht bedenken würden, wie groß das Erbarmen Gottes ist, so würden wir nie unterlassen, das Gute zu tun.”[78] Wir wollen unseren Herrn Jesus Christus „über alle anderen Dinge dieser Welt lieben und seine Liebe und Güte mit barmherziger Liebe zu den Armen und Bedürftigen beantworten”, wobei es unser Bemühen ist, die „mütterliche Liebe“ der „allzeit unberührten“ Jungfrau und Gottesmutter Maria unter ihnen aufleuchten zu lassen (Konst. 4b.c).

Ø        Unser spirituelles Ziel ist, “die Gesinnungen Christi zum kranken und bedürftigen Menschen zu verleiblichen und sie durch Werke der Barmherzigkeit zu offenbaren.” “Wir machen uns schwach mit dem Schwachen” und wollen für ihn Zeichen und Ankündigung des angebrochenen Reiches Gottes sein (Konst. 3). Wir erwidern den Ruf Gottes, der an uns ergangen ist, indem wir eine intensive Liebe zu den Armen, Hilfsbedürftigen und Sündern entfalten.

Ø        Der Stil, der unsere Gemeinschaft seit ihrem Entstehen kennzeichnet, äußert sich in folgenden Tugenden: ... demütigem, geduldigem und verantwortungsvollem Dienen; Achtung vor der Person und Treue zu ihr; Verständnis, Wohlwollen und Selbstlosigkeit; Anteilnahme an Ängsten und Hoffnungen... (Konst. 3b).

 

3. Die Hospitalität (Gastfreundschaft)

49.     Das 2733Charisma, das unser Orden empfangen hat, wird traditionsgemäß als “Hospitalität” bezeichnet. Dieser Begriff, der in seiner ursächlichen Bedeutung als Gastfreundschaft im weitesten Sinne zu verstehen ist, hat nicht nur sprachlich seine Ausdruckskraft gewahrt, sondern wird heute von einigen anerkannten Denkern auch als grundlegende Kategorie des neuen, ethischen Codex betrachtet, den unsere Zeit so dringend notwendig hätte.[79] Deswegen soll im Folgenden einiges zu diesem Kernbegriff unserer spezifischen Ordensspiritualität gesagt werden.

 

a) Was ist Hospitalität

50.     Hospitalität ist zuallererst ein menschliches Beziehungsmuster, bei dem eine Seite Gastfreundschaft sucht (Gast) und eine andere Gastfreundschaft gewährt (Gastgeber). Diese Beziehung beinhaltet Rechte und Pflichten. Gast und Gastgeber stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Der Gast ist ein Abwesender, der jederzeit kommen und sein Gastrecht geltend machen kann. Wo Gastfreundschaft gepflegt wird, hat der Abwesende das Recht, empfangen zu werden, und der Gastgeber die Pflicht, ihn zu empfangen-huesped.

51.     Warum gibt es die Gastfreundschaft unter den Menschen? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Was gesagt werden kann, ist, dass Gastfreundschaft nichts Mechanisches ist, denn der Gast kann wieder gehen bzw. der Gastgeber seine Gastfreundschaft aufkünden. Sie ist jedoch auch nicht willkürlich, weil ein Gastgeber sich gewöhnlich verpflichtet fühlt, den ankommenden Gast aufzunehmen, auch wenn er ihm ungelegen kommt.

52.     Das wichtigste Kennzeichen der Hospitalität/Gastfreundschaft ist die Aufnahme und die Zuerkennung des Gaststatus an den Ankommenden vonseiten des Gastgebers. Doch diese Anerkennung und Aufnahme trägt besondere Züge 293:

Ø        Hospitalität/Gastfreundschaft ist grundsätzlich universal. Jeder Mensch kann Gast sein. Einen Menschen als Gast anerkennen, bedeutet, dass man anerkennt, dass alle Menschen ein potentielles Gastrecht haben. In diesem Sinn ist ein jeder Mensch auf dieser Welt ein potentieller Gast oder umgekehrt ein potentieller Gastgeber. In vielen Kulturkreisen ist es verboten, den Gast nach seiner Herkunft und nach seinem Namen zu fragen. Das kommt daher, dass er ein symbolisches Zeichen für das Abwesende bleiben soll. Dieser Schutz der Anonymität des Gastes bedeutet, dass wir in jedem Gast stellvertretend „alle“ Menschen sehen sollen. Die Pflichten, die wir gegenüber den Besuchern haben, die zu uns kommen, sind nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Wenn man den Fremden so nicht nach seinem Namen, seiner Herkunft und seiner Abstammung fragt, kündet das nicht von Desinteresse oder sogar von Verachtung, sondern von der inneren Bereitschaft, allen Menschen ohne Ansehen von Namen, Herkunft und Abstammung Gastfreundschaft zu gewähren.

Ø        Hospitalität/Gastfreundschaft ist ein moralisches und politisches Gütezeugnis, das dann gegeben ist, wenn der Gast nicht nur in seiner Eigenschaft als Individuum, sondern als ständiger Botschafter bzw. Vertreter anderer Menschengruppen, Gemeinschaften, Völker oder Nationen aufgenommen wird. Hier stellt uns die Hospitalität vor eine große ethische und politische Herausforderung, nämlich der Aufnahme des Fremden, des Anderen, kurz, des Menschen, der nicht zu „den Meinen“ gehört. Hospitalität ist in diesem Sinn Anerkennung des Andersartigen: Wir akzeptieren, dass der Gast anders ist als wir, und, was ganz besonders wichtig ist, lassen ihm die Freiheit, anders zu sein.

Ø        Hospitalität/Gastfreundschaft ist grundsätzlich heilig. Bei vielen Völkern ist der Fremde, der zu Gast kommt, von Geheimnis umgeben. Ja, ihn umhüllt eine gewisse Heiligkeit. Der Gast könnte ein Gott sein. Dass das Göttliche zu den Menschen zu Gast kommt, ist sowohl in der griechischen Mythologie, als auch in der Bibel und bei vielen anderen Kulturen ein immer wiederkehrendes Thema. Das Göttliche, so heißt es, verkleidet sich gern bis zur Unkenntlichkeit, um in dieser Form die Menschen um Hilfe zu bitten. Im Brief an die Hebräer heißt es in diesem Sinn, dass manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt haben (Hebr 13, 2). Auf diese Weise wurde das Gastrecht auf ein religiöses Fundament gestellt: Gehe mit Fremden so um, als ob Gott zu dir zu Besuch käme. Die Gestalt des Gastes erlangt so etwas Undefinierbares, das ihn zu einem Ort der Ungewissheit macht, an dem etwas Entscheidendes für uns auf dem Spiel steht. Etwas zugleich Furchteinflößendes und Anziehendes ist ihm zu eigen  Dadurch wird der Gast zum Vermittler zwischen zwei verschiedenen Sphären. Im Akt der Gastfreundschaft vollzieht sich die Begegnung zwischen zwei verschiedenen Ebenen: das Göttliche, Ferne, Unermessliche und Unbegreifliche kommt zu Gast zu den Menschen. Diese Begegnung, die gelegentlich die Form eines gewaltsamen Einbruchs haben kann, der die bestehende Ordnung zerstört und Vertrautes durcheinander bringt, vollzieht sich immer unter dem Zeichen des Ungewissen und Verwirrenden.

Ø        Hospitalität/Gastfreundschaft ist ein Ereignis. Sie ist weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Wir wissen weder, wann sie von uns gefordert wird, noch von wem. Der Gastgeber muss immer bereit ein, denn zur undenkbarsten Stunde kann der Gast an seine Tür klopfen.

Ø        Hospitalität/Gastfreundschaft ist immer eine einmalige Begegnung und bringt stets die Sorge um einen ganz konkreten Menschen mit sich. Deswegen muss sie je nach den Eigenschaften und Erfordernissen der Beteiligten (Gast und Gastgeber) gestaltet und interpretiert werden . Die Rechte und Pflichten, welche die Gastfreundschaft beinhaltet, haben zwar grundsätzlichen Charakter, spielen sich jedoch stets in einem fest umrissenen Horizont ab. So kann man etwa grundsätzlich bereit sein, die Verpflichtungen zu erfüllen, welche sich aus der Forderung ergeben, dass man für jeden Menschen unabhängig von seinen Eigenschaften Sorge tragen muss, weil er Teil der Menschheit ist. Doch diese Forderung tritt uns immer in der Gestalt eines ganz konkreten Menschen entgegen. Wenn also ein Gastgeber auf den universalen Gast warten würde, weil dieser seiner Meinung nach der einzige ist, der seine Gastfreundschaft verdient, und alle anderen Besucher, die an seine Tür klopfen, abweisen würde, weil keiner von ihnen vollauf seinen Menschlichkeitsgedanken erfüllt, würde Gastfreundschaft nie geschehen.

 

b) Die Hospitalität in der Offenbarung

53.     Die jüdisch-christliche Offenbarungsgeschichte hat seit jeher eine ganz besondere Sensibilität für den Fragenbereich der Hospitalität/Gastfreundschaft gezeigt3631juded.[80] An ihrem Anfang finden wir Gott, der den Menschen in seinem Garten empfängt und sich unter allen Aspekten um seinen Gast sorgt  (“Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten”). Er bot ihm Essen und Kleidung  (“Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen...Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit”) (Gen 2, 8-9, 15-17; 3, 21). An ihrem Ende finden wir Gott, der den Menschen um Gastfreundschaft bittet: “Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir” (Offb 3, 20).

54.     Im Vollzug der Hospitalität/Gastfreundschaft wird der Mensch zum Gast Gottes und Gott zum Gast des Menschen. Zugleich werden dadurch alle Menschen Gäste füreinander. 3137Adam und Eva waren im Garten Eden Gäste Gottes. Abraham, und nach ihm das Volk, das in Ägypten warEgipto, wurden in das Land geführt, in dem Milch und Honig fließen, und waren dort Gäste Gottes: “Das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Gäste bei mir” (Lev 25, 23; vgl. Ps 23, 5; 27, 10). Gott war Gast bei Abraham und setzte sich zu ihm vor das Zelt bei den Eichen von Mamre. Danach war er zu Gast beim Volk, das durch die Wüste wanderte, und wohnte im Zelt der Begegnung. Schließlich wohnte er im Tempel: “Die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus des Herrn” (1 Kön 8, 10-11). Das Geschehen der Hospitalität/Gastfreundschaft öffnete den Menschen die Augen, dass sie Gäste Gottes auf dieser Welt sind und einander als Gäste begegnen sollen. Abraham und Moses fühlten sich als Fremde in der Fremde. In Ägypten machte das Volk Gottes dieselbe Erfahrung. Dadurch begriffen sie, dass die Hospitalität/Gastfreundschaft zum innersten Wesen des Menschen gehört.

55.     Hospitalität/Gastfreundschaft ist die Empfängnis eines jeden Menschen im mütterlichen Schoß. Hospitalität/Gastfreundschaft erfährt und schenkt man in Zelten, Häusern, Städten und Ländern. Hospitalität/Gastfreundschaft beschränkt sich nicht nur auf den Empfang des Gastes, sondern beinhaltet auch, dass man den Gast in den eigenen Interessenbereich „einschließt“, vor Feinden schützt, wie sich selbst respektiert und in Notfällen die Sorge angedeihen lässt, die man Mitbürgern angedeihen lässt.

56.     Lebendige Sinnbilder der Hospitalität/Gastfreundschaft im Alten Testament sind: Abraham (die gastliche Aufnahme der drei Männer); hombesdie Witwe von SareptaSarepta und Elija (die einander gegenseitg Gastfreundschaft gewähren); die Prostituierte von JericóJericho, RahabRahab (die die Botschafter von Josua aufnimmt); der Alte (der den Leviten und seine Frau aufnimmt, Ri 19), Tobias, der Erzengel Raphael und Rut.

57.     Im Neuen Testament erreicht die Hospitalität/Gastfreundschaft den Höhepunkt ihrer Ausdruckskraft. 3339Jesus ist das Sakrament Gottes, das uns aufnimmt, dient und heilt, das unsere Würde und Gesundheit wiederherstellt, das sich mit uns identifiziert, das uns die Füße wäscht und für uns stirbt. Ganz besonders im Lukasevangelium tritt uns Jesus als Weg der Hospitalität entgegen. Andererseits erfährt auch Jesus die Hospitalität/Gastfreundschaft der Menschen: im Schoße Mariens, bei einigen Pharisäern, bei Marta und Maria, bei Zachäus usw. Die christliche Spiritualität achtet die Hospitalität/Gastfreundschaft so sehr, dass sie die Gegenwart Jesu in Armen, Kranken, Gefangenen und allen Menschen erkennt, die unserer Solidarität, Liebe und Hilfe bedürfen.

58.     Das große christliche Gleichnis der Hospitalität/Gastfreundschaft ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Auf die Frage des Rechtsgelehrten: Wer ist mein Nächster? antwortet Jesus mit dem Beispiel des barmherzigen Samariters. Man könnte glauben, dass Jesus mit dem Gleichnis sagen will, dass der Nächste der Mann ist, der unter die Räuber gefallen ist, also der Mensch in Not. Doch Jesus formuliert die Frage des Rechtsgelehrten um und fragt: Wer hat sich als Nächster erwiesen? (Lk 10, 36). Worauf es Jesus ankommt, ist also nicht so sehr, dass man im hilfsbedürftigen Menschen seinen Nächsten erkennen soll, sondern dass man sich durch tätige Barmherzigkeit zum Nächsten des Hilfsbedürftigen machen soll. Deswegen ist es nicht notwendig, dass der Rechtsgelehrte sich auf die Suche nach hilfsbedürftigen Menschen macht, sondern sich, wie der barmherzige Samariter, auf seinem Lebensweg durch tätige Barmherzigkeit zum Nächsten macht. In dieser Parabel verschmelzen auf wunderbare Weise Hospitalität und Barmherzigkeit.


c) Die Hospitalität bei unserem heiligen Stifter Johannes von Gott

59.     51Johannes von Gott machte die Hospitalität zu seinem Lebensweg und Lebensziel. Auf diesem großartigen, biblischen und anthropologischen Weg war es jedoch sein besonderes Anliegen, die Hospitalität den Ärmsten, den Untersten auf der menschlichen Stufenleiter, den körperlich und geistig Kranken ohne Ausnahme erfahrbar zu machen. Diese Hospitalität wurde zu seinem Lebensgrundfue . Sie ist das Charisma, mit dem er beschenkt wurde und das eine so beeindruckende und zuweilen unbegreifliche Wirkung an ihm entfaltete, dass er niemand die Aufnahme verweigern konnte, ja vielmehr diesen anderen, entstellten Menschen geradezu suchte, um sich ihm ganz hinzugeben und gleich zu machen. Johannes von Gott gehört damit zu den Menschen, die den heiligen Charakter des Fremden erkannt haben.

60.     52Seine Hospitalität bestand darin, im Kranken seinen Bruder und Nächsten zu sehen und zu dienen. Seine Hauptsorge war, den Kranken alles Notwendige für Leib und Seele zu beschaffen: „Bevor er am Morgen das Haus verließ.... und wenn er am Abend nach Hause kam, ging er, so müde er auch war, niemals schlafen, ohne vorher alle Kranken, einen nach dem anderen, zu besuchen und sie zu fragen, wie sie den Tag verbracht hätten, wie es ihnen gehe und was sie bräuchten, wobei er sie mit herzlichen und liebevollen Worten an Leib und Seele aufrichtete.[81] Dem Herrn seine Liebe in den Armen und Kranken zu erweisen, erfüllte ihn mit grenzenloser Freude. [82]

61.     Die Nächstenliebe des heiligen Johannes von Gott war sehr vielseitig. Das zeigt deutlich folgende Beschreibung seines Hospitals: Da dies ein Haus für alle ist, werden alle Arten von Kranken aufgenommen und auch alle Arten von Menschen. Es gibt hier deshalb Versehrte, Verletzte, Aussätzige, Stumme, Verrückte, Gelähmte, mit Krätze Behaftete, sehr alte Menschen und viele Kinder; überdies viele Pilger und Reisende, deren Weg zu uns führt.[83] Wie vielseitig und schöpferisch Johannes von Gott war, hatte er bereits mit seiner besonderen Form des Bettelns unter Beweis gestellt, die er in eine Art Apostolat verwandelte, indem er den Menschen bewusst machte, dass die Hauptnutznießer einer jeden Gabe die Spender selbst sind. Er schloss keinen von seiner grenzenlosen Liebe aus, sondern umfing damit Arme wie Reiche, denn seine Liebe hatte ihren Ursprung in der Liebe zu Jesus, in dem er alle Menschen ohne Unterschied wie Brüder und Schwestern liebte.

62.     Die Identifizierung mit Christus machte aus Johannes von Gott einen vorzüglichen Lehrer der Barmherzigkeit: Gott schenkte ihm ein ausnehmend mitfühlendes und menschliches Herz. Wie Jesus, lehrte er mehr durch Taten als durch Worte. Er sorgte sich nicht darum, Statuten oder Dienstregeln zu verfassen, sondern beschränkte sich darauf, die Gabe, von der er erfüllt war, in die Praxis umzusetzen, Gutes zu tun, etliche Stunden der Nacht dem Gebet zu widmen, die Kranken einzeln zu besuchen und allen mit großer Geduld zuzuhören, sie zu trösten und einem jedem je nach Dringlichkeit und Möglichkeit zu helfen. Wie Jesus, lebte, liebte und diente er, indem er sein Leben für alle hingab. Wie Jesus, hinterließ auch er nur ein Gebot, das sein Werk in Zukunft erhellen und seinen Geist lebendig erhalten sollte.[84] Die Brüder, die in seine Nachfolge traten, lernten von ihm, die Armen und Kranken mit derselben Hingabe aufzunehmen, zu pflegen und zu lieben. Erst später wurden die Regeln dieser gelebten Liebe in den Konstitutionen des Ordens schriftlich festgehalten, um das Modell der Hospitalität, das die Brüder von ihrem Stifter empfangen hatten, in der Zeit zu bewahren:

“In unseren Hospitälern soll dafür gesorgt werden, dass der Dienst, der dem Herrn in seinen Armen erwiesen wird, ihm wohlgefällig ist. Deswegen (...) sollen ihnen, bevor man sie mit der gebotenen Liebe in ein Bett legt, die Haare und Nägel geschnitten werden, da dies der Gesundheit nicht schadet. Außerdem soll man ihnen mit zu diesem Zweck angemessen warm zubereitetem Wasser die Hände und Füße waschen und, bei Bedarf, den ganzen Körper. Danach sollen sie in ein sauberes Hemd gekleidet werden und ihnen eine Mütze oder ein Kopftuch umgebunden werden. Hat man dies getan, soll der Kranke säuberlich in das Bett gelegt werden, das mit frischen Leintüchern und Kopfkissen bezogen sein soll, welche im Winter vorgewärmt werden sollen, damit für alles Notwendige für sein leibliches Wohl vorgesorgt ist.” [85]

 

d) Die Hospitalität in den Konstitutionen und Schriften des Ordens

63.     Der Daseinsgrund eines Barmherzigen Bruders ist, mit seinem Leben zu zeigen, dass 5434“der barmherzige Jesus von Nazaret in der Zeit lebendige Gegenwart” ist, und seine “Gesinnungen zum kranken und bedürftigen Menschen zu verleiblichen”, um damit zu bezeugen, dass “der mitleidende und barmherzige Christus des Evangeliums unter den Menschen“ konkret weiter lebt.[86] Jesus von Nazaret ist die “Quelle und Krone” unserer Spiritualität.[87] Der Barmherzige Bruder hat eine ganz besondere Sendung und Aufgabe: Jesus durch den Dienst an den Kranken und durch die Aufnahme der Armen und Verlassenen lebendige Gestalt werden zu lassen. Jesus verkündete das Reich Gottes denjenigen, die müde und beladen waren. Denjenigen, die unter dem Joch von Not und Krankheit litten, verhieß er Befreiung und denjenigen, die verstört waren, Heil und Heilung.

64.     Der Zweck der Ordenskonstitutionen ist, dem Orden eine zeitgemäße Interpretation seiner Spiritualität im Wandel der Zeiten zu bieten. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam man im Orden zur Einsicht, dass ohne ein tiefgehendes Umdenken und ohne einen neuen spirituellen Elan die Forderung des Konzils nach Erneuerung nicht erfüllt werden konnte.[88] Der Erneuerungsprozess, der darauf im Orden eingeleitet wurde, zielte in verschiedene Richtungen:

Ø        Humanisierung der Betreuunghumanizacion: Das Hauptziel des Ordens ist, die Würde eines jeden Menschen zu schützen und für sie einzutreten (Konst. 10d; 12c; 23a; 28b; 43d)[89]. Das Apostolat des Barmherzigen Bruders fällt in diesem Sinn mit der Humanisierung zusammen. Dabei haben wir die Entdeckung gemacht, dass der Barmherzige Bruder zuerst selbst ganz Mensch werden muss, um vermenschlichend auf andere und an anderen wirken zu können: “Das eigene menschliche Wachstum pflegen, um das anderer fördern zu können”. Ohne Pflege der Menschlichkeit geht der tiefere Sinn des Charismas der Hospitalität verloren.

Ø        Das Ziel der Berufung des Barmherzigen Bruders ist, sich nach dem Vorbild des Bundes, den Gott mit dem Menschen geschlossen hat, zum Verbündeten des leidenden Menschen zu machen.

Ø        Sie beinhaltet weiter, geschwisterliche Bande unter den Menschen zu stiften. Johannes von Gott verstand sich als Bruder aller Menschen: vom Ärmsten bis zum Kronprinz Philipp.[90] Die Fähigkeit, geschwisterliche Bande zu stiften, muss den Barmherzigen Bruder ganz besonders auszeichnen. Angefangen beim leidenden Menschen bis hin zu den Menschen, die mit ihm im Dienst der Hospitalität zusammenarbeiten, muss er allen Menschen ein Bruder sein (45b; 46b.c; 23), Mitarbeitern, freiwilligen Helfern und Wohltätern, mit denen er im Stil partnerschaftlichen Miteinanders gemeinsam dem Leben dienen soll.[91]

Ø        Die Hospitalität muss auf der Grundlage der Option für die Armen und auf der Grundlage der Humanisierung su (Konst. 5a)[92] des Dienstes an den Kranken und Hilfsbedürftigen verstanden werden.

 

4. Barmherzigkeit und Hospitalität in unserer Zeit: die Beziehung zum Fremden

a) Die Beziehung zum “Fremden”

65.     Hospitalität und Barmherzigkeit sind im Wesentlichen zwei menschliche Beziehungsformen, mit denen der Mensch in seinen Mitmenschen dem Nächsten, dem Bruder und dem „Fremden“ begegnet. Diese fremde Realität kann ein Freund sein 41(und Gemeinschaft bedeuten!) oder ein Feind (und Feindschaft bedeuten!),  ein Fremder, der uns bedroht, aber auch unser Körper selbst als Schauplatz des Leidens oder auch die äußeren Folgen unseres Handelns (vgl. Röm 7). Die Begegnung mit dem “Anderen”, mit dem “Freund”, “Feind”, “Fremden” kann verschiedene Reaktionen bewirken: Freude, Herzlichkeit, Solidarität, Irritation, Angst, Neugier, Interesse am Exotischen. Das Unbekannte am Anderen ruft Angst hervor und erscheint bedrohlich und faszinierend zugleich: bedrohlich, weil es das Eigene in Frage stellt; faszinierend, weil es Möglichkeiten andeutet, die dem eigenen Leben bisher „fremd“ waren.

66.     Das Fremde ist immer etwas, das 42außerhalb des eigenen Bereiches, des eigenen Raumes liegt, d.h. zu etwas Anderem gehört. Das Fremde ist etwas, das sich uns entgegenstellt und uns unbegreiflich und ungewöhnlich erscheint. Etwas wird nur als fremd erfühlt, wenn es zum „Eigenen“ in Beziehung gesetzt wird. Damit etwas als „fremd“ bzw. „eigen“ bezeichnet werden kann, muss anerkannt werden, dass zwischen diesen beiden Begriffen eine Beziehung besteht. Deswegen kann man Fremdes im Grunde nur als Fremdes bezeichnen, wenn wir es uns bereits in einem gewissen Ausmaß zu „eigen“ gemacht haben: Wir erkennen das Eigene am Fremden und das Fremde am Eigenen. Deswegen ist der Gast nicht der Wanderer, der kommt und wieder geht, sondern der Wanderer, der kommt und  bleibt, auch wenn nur einstweilig. Der Gast besetzt einen Zwischenraum. Aber auch seine Gastgeber begeben sich in diesen Zwischenraum, indem sie ihn beherbergen. Der Raum, in dem sie sich begegnen, ist keinem von beiden mehr zu eigenhuesped.

67.     Das Fremde ist aber auch und vor allem etwas, das 3743außerhalb unserer Zeit liegt. Jeder Mensch hat seine ganz besondere innere Zeit. Andere werden nicht nur als andere Welten, sondern auch als „andere Zeiten” erlebt. Zusammenleben heißt deswegen, Zeiten und Rhythmen abstimmen, das Tempo der anderen mit meinem eigenen harmonisieren. Hospitalität hat in diesem Sinn sehr viel mit dem Respekt vor der inneren Zeit des anderen zu tun und betrifft nicht nur die Achtung seines Raumes. Wenn man den anderen von seiner Zeit, von seinem Rhythmus her betrachtet, wird er oft als ungelegen, als jemand Lästiges erlebt, der den Lauf der Dinge verlangsamt oder verzögert, que se nos escapa o detiene nuestra velocidad particular. Die anderen sind immer entweder zu langsam oder zu schnell. Sie haben einen Rhythmus, der uns, wie auch immer, fremd oder unpassend erscheint. Deswegen sind die eigentlichen Fremden nicht so sehr diejenigen, die fern von uns leben, sondern diejenigen, die in einer anderen Zeit leben. Bei Menschen, die am gesellschaftlichen Rand leben, handelt es sich deswegen nicht so sehr um ein räumliches Randdasein, als vielmehr um ein zeitliches. Aus diesem Grund hat Hospitalität viel mit der Fähigkeit zu tun, „Zeit zu verlieren“ und „Zeit zu schenken”.

68.     Das Fremde3844 – sei es nun räumlich oder zeitlich – tritt immer als unvorhergesehene und neue  Anfrage an uns und verlangt von uns als solche eine Antwort. Auf diese Anfrage nicht zu antworten, fällt unter die Fülle der möglichen Antworten: Auf diese Weise vermeidet man künftige Fragen und schützt sich gegen eine ungewisse Zukunft. Das Fremde kann eine Krise der eigenen Identität auslösen. Darin besteht sein Reichtum und seine Gefahr. Die kulturelle Erfahrung des Fremden zieht immer eine Auseinandersetzung mit möglichen Alternativen zum eigenen Leben nach sich und stellt so das Gewohnte in Frage. Das Fremde beinhaltet die Chance, die eigenen - vielfach engen - Positionen zu erweitern und zu korrigieren. Durkheim sagte in diesem Sinn, dass die sittliche Qualität einer Kultur an ihrem Verhältnis zum Fremden ablesbar ist. Dasjenige, dem wir antworten, überschreitet immer das, was wir als Antwort zu bieten haben.

 

b) Hospitalität und Barmherzigkeit können erlernt werden

69.     Eine so verstandene Hospitalität und Barmherzigkeit, als Liebe und Verzicht auf Gewalt, offenbart uns die grundlegenden Wahrheiten über den Menschen. Der Mensch erkennt und erfährt sich als Mensch in der Begegnung mit anderen Menschen. Diese Erkenntnis und Erfahrung ist immer ein intersubjektiver Vorgang. Wir erkennen unsere Rechte und Pflichten in dem Maß, in dem wir uns der Begegnung mit dem anderen öffnen. Sich als Gast oder Gastgeber erkennen, als jemand, der aufgenommen wird, oder umgekehrt als jemand, der Gastfreundschaft gewährt, begründet eine Identität, welche Rechte und Pflichten beinhaltet. Der Einzelne wird erst durch die bejahende oder ablehnende Sichtweise des anderen zur menschlichen Person konstituiert.

70.     Wie zutreffend ist doch die Aussage von 4046Merleau-Ponty: “Wir müssen lernen, Eigenes als Fremdes zu betrachten, und Fremdes als Eigenes.” Dieser Lernprozess lässt sich am besten durch gelebte Hospitalität und Barmherzigkeit vollziehen, die weder das Andere unterwerfen will, noch ihm gleichgültig gegenübersteht, sondern fähig ist, mit dem Andersartigen zu koexistieren und die eigene Gefährdung genauso wie die des anderen zu ertragen. Hospitalität und Barmherzigkeit erlernt man, indem man sich daran gewöhnt, sich für Fremdes zu interessieren, es zu respektieren und seine „Eigentümlichkeit“  anzunehmen.

 

c) Barmherzigkeit und Hospitalität als Sendung  “heute”

71.     Die heutigen Lebensbedingungen haben eine nie gekannte menschliche Mobilität bewirkt, so dass der Kontakt mit Fremdem und Fremden für die Menschen beinahe zu etwas Selbstverständlichem geworden ist41 47. Starke Aus- und Einwanderungswellen sind ein Element davon. Wir leben in einer mobilen und globalen Gesellschaft. Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, in der Pluralismus tagtäglich erfahren und gelebt wird. Toleranz mit dem Anderen und dem Fremden ist ein tägliches Gebot. Diese Situation zeigt uns, dass es heute keine kompakten, homogenen Blöcke mehr gibt, keine genau definierten und umgrenzten Realitäten, vielmehr erleben wir immer wieder, wie schnell und überraschend das Eigene fremd und das Fremde gewohnt wird. Unsere komplexen Gesellschaften fordern eine größere Sensibilität für die Ausgeschlossenen, die durch eine übertriebene Behauptung der eigenen Identität oder die bestehenden sozialen Ordnungen erzeugt werden. In der zeitgenössischen Gesellschaft erleben wir zur Zeit, dass das Individuum seinen Gravitationspunkt verloren hat. Das Individuum fühlt sich heute viel weniger als früher an ein Land gebunden; es ist unkontrollierbarer geworden und lebt freier und zwangloser–-. In dem Szenarium, in dem wir uns befinden, hat es wenig Sinn, auf eine Identität zu beharren, die sich als genau definiert und definitiv verstehen möchte. Heute spricht man besser von einer “vielschichtigen Identität” (Amin Maalouf). Am Fremden lernt man das Eigene besser verstehen.

72.     Dass es in unserer Welt eine Vielzahl von unerträglichen Situationen gibt, ist hinlänglich bekannt. 4248Die Zahl der Armen und Entrechteten nimmt nicht ab, sondern zu, trotz Fortschritt der Technik und Globalisierung. Die Heiligkeit des Menschen wird auf dem Altar neuer Götter geopfert, denen sich die moderne Gesellschaft zuwendet und huldigt. In der  Erziehung, welche die Gesellschaft (von den Kommunikationsmitteln bis hin zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld) den neuen Generationen bietet, spielt der Wert der Hospitalität keine Rolle mehr. Was zählt, ist ein übersteigerter Individualismus und eine materialistische und genussorientierte Weltanschauung. Diese Lebenseinstellung steht jedoch Phänomenen wie Drogenkonsum und Drogenhandel, Pornographie, psychischen Störungen, der Entwürdigung der menschlichen Sexualität im allgemeinen, dem Zunehmen von Armut und Ungerechtigkeit und dem Auftreten neuer Krankheiten, die Millionen von Menschen bedrohen, ziemlich hilflos gegenüber. Sie ist nicht fähig, diesen Phänomenen Einhalt zu gebieten. Hand in Hand mit diesem menschlichen Niedergang geht eine verheerende Umweltzerstörung (ganze Meeres- und Küstenstreifen sind von der Erdölindustrie verseucht worden; die Luftverschmutzung hat durch die Textil- und Lebensmittelindustrie sowie andere Industriezweige nie gekannte Ausmaße angenommen; dazu ist in jüngster Zeit die genetische Manipulation gekommen).

73.     Eine weitere große Problematik, die unsere Fähigkeit zur Hospitalität herausfordert, ist die Bevölkerungsexplosion. 49Die Weltbevölkerung wächst jeden Tag um 220.000 Menschen. Dieses rapide Bevölkerungswachstum wirft neue, schwerwiegende Probleme auf: Entwurzelung der Familien, Verstädterung, unverträgliche Ausbeutung der verfügbaren Ressourcen der Erde zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der wachsenden Bevölkerung. Wohin man auch blickt, hat man den Eindruck, dass der Mensch den Sinn für die Heiligkeit des Lebens verloren hat: Bürgerkriege, Gewalt gegen wehrlose Frauen, Ausbeutung unschuldiger Kinder und ein inhumaner Kapitalismus, der die Kluft zwischen Reichen und Armen immer breiter werden lässt, bestimmen das Bild. 30% der Menschen leben im Überfluss, 70% in Armut und ohne Aussicht auf Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Dazu kommt, dass die Kulturen der armen Völker aufgrund mangelnder Mittel und der Verlockung durch fremde, materialistische Lebensmodelle immer stärker bedroht sind que seducen.

74.     Glücklicherweise gibt es daneben auch zahlreiche Einrichtungen und Initiativen (Freiwilligenvereine, nichtstaatliche Organisationen, Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit, Umwelt, Würde des Menschen, gegen Fremdenfeindlichkeit usw.), in denen die Hospitalität in ihrer ganzen Vielfalt – durch herzliche Aufnahme, Wertschätzung, Dienstbereitschaft und Solidarität – mit ungebrochener Strahlkraft weiter wirkt. Außerdem gibt es viele Völker auf der Welt, die ihre kostbare Tradition der Hospitalität bewahrt haben. Es stimmt zwar, dass auch bei diesen Völkern der Wert der Hospitalität im Sinken ist, weil er vielfach dem noch wichtigeren Wert der Sicherheit geopfert wird. Die durch Gewalt, Krieg, Kriminalität und Terrorismus bewirkte Verunsicherung wird als derart bedrohlich empfunden, dass die traditionellen Werte der Hospitalität davon teilweise schwer in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Zu den Einrichtungen, die vor diesem Horizont tatkräftig für den unschätzbaren Wert der Hospitalität eintreten, gehört der Orden der Barmherzigen Brüder mit seiner jahrhundertealten Tradition. Er will den Herausforderungen der Zeit entgegentreten und mit neuem Elan seine spezifische Berufung erfüllen, indem er Lebensräume schafft, in denen Organisation, Professionalität, Technik und Humanisierung sich harmonisch ergänzen und in konkreten Haltungen und Handlungen der Aufnahme, des Dienstes und der Solidarität zur Linderung menschlichen Leids Ausdruck finden.


III. Unser Spiritueller Weg:

“Heute” den Weg des Heiligen Johannes von Gott gehen

 

1. Spiritualität heute

75.     In der Kirche, wie auch in unserer Welt, begegnen wir einem großen Durst nach Spiritualität. Vor der Sinnlosigkeit, vor der Anhäufung der Probleme, die unlösbar scheinen, vor dem Schwindeln in einer Zeit fortwährender Bewegung spüren wir alle das Bedürfnis, zu den Wurzeln des Geheimnisses, zu dem Geist zurückzukehren, der unserem Sein Sinn und Halt gibt. Die Menschheit dürstet nach Spiritualität. Die Kirche ist diesem Durst mit verschiedenen spirituellen Wegangeboten entgegengetreten.

76.     Wir erleben heute eine Art Globalisierung 57der Spiritualität. Der interreligiöse Dialog hat unter diesem Gesichtspunkt Wunderbares erreicht. Zugleich fordern aber auch sogenannte regionale Formen der Spiritualität ihr Recht. So spricht man heute von einer afrikanischen, asiatischen, amerikanischen oder europäischen Spiritualität. Zu Beginn dieses neuen Jahrtausends sehen wir Spiritualität außerdem in einer betont ganzheitlichen Sichtweise. Spiritualität hat mit Leib und Seele, mit dem Individuum und der Gesellschaft, mit dem Lokalen und Globalen, mit dem religiös Eigenstem wie auch mit dem Ökumenischen zu tun… Dasselbe erleben wir in unserem Orden. Auch wir haben eine globalisierte Spiritualität, mit der die Brüder auf die empfangene Gabe antworten, doch zugleich äußert sich unsere Spiritualität in den verschiedenen Regionen der Welt in besonderen eigenen Formen.

77.     Wir verstehen Spiritualität als Entwicklung, als Weg. Sie vollzieht sich in Etappen. Unsere Konstitutionen weisen uns dazu das Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, muss zuerst der richtige Weg bzw. die geeigneteste Methode der Spiritualität gefunden werden. Der Geist ist unser “innerer Lehrer”. Er führt uns zur Vervollkommnung der Liebe, des Bundes, der Vereinigung mit Gott, dem Mitmenschen und dem Universum. In diesem Leben ist es uns nicht gegeben, das Ziel zu erreichen. Gregor von Nyssa sagt hierzu treffend in “Der Aufstieg des Moses” (Originaltitel: De vita Moysis):

“Wer auf dem Weg der Tugend stehen bleibt, ist bereits auf dem Weg des Lasters... Alles was Grenzen hat, ist nicht Tugend. Für die Tugend gilt nämlich, dass die einzige Grenze der Vollkommenheit die Grenzenlosigkeit ist... Der Apostel, der ohne Unterlass auf dem Weg der Tugend schreitet, hört nie auf, weiter zu streben, denn es erscheint ihm gefährlich, auf dem Weg stehen zu bleiben… Wahrscheinlich ist der vollkommene Mensch derjenige, der stetig nach einem höheren Gut strebt.” 59

78.     Die Kirche weist uns Ordenschristen in dem Dokument “Neubeginn in Christus” dieselbe Perspektive. Dort heißt es:

“Gerade in der Einfachheit des Alltäglichen wächst und reift das geweihte Leben beständig, um zur Verkündigung eines Lebensstils zu werden, der eine Alternative zu jenem der Welt und zur vorherrschenden Kultur darstellt…. Neben der aktiven Präsenz neuer Generationen von geweihten Personen, die die Präsenz Christi in der Welt und den Glanz der kirchlichen Charismen lebendig machen, ist die verborgene und fruchtbare Präsenz von geweihten Männern und Frauen, die Alter, Einsamkeit, Krankheit und Leiden erfahren, gleichfalls bedeutsam. Ihrem bereits geleisteten Dienst und der Weisheit, die sie anderen mitteilen können, fügen sie nun einen eigenen, wertvollen Beitrag hinzu, indem sie sich mit der Hingabe Christi vereinen, der für seinen Leib, der die Kirche ist, gelitten hat und verherrlicht wurde (vgl. Kol 1, 24)” (Neubeginn in Christus, Nr. 6). [93]

2. Paradigma bzw. Modell unseres spirituellen Weges

79.     “Unsere Hospitalität hat ihren Ursprung im Leben Jesu von Nazaret” (Konst. 20), den unser heiliger Stifter Johannes von Gott in Treue nachahmte, indem er sich ganz dem Dienst und Heil der Armen und Kranken hingab (Konst. 1a). Heute sind wir der heilige Johannes von Gott: Wir teilen seine Gabe, seinen Glauben, seine Sensibilität für das menschliche Leiden, seine restlose Hingebungsbereitschaft, seine Demut und die Kreativität seiner Nächstenliebe.[94] Sein spiritueller Weg wird uns vom Heiligen Geist als Reifungsprozess zur Entfaltung des Charismas der Hospitalität vorgeschlagen. Auch wir sind, wie er, Menschen auf dem Weg, Wanderer und Pilger inmitten einer globalisierten und zunehmend komplizierten Welt. Seine innere Pilgerschaft, sein innerer Gipfelweg hinab zum tiefsten, menschlichen Elend sind das spirituelle Programm unserer Sendung und Gemeinschaft (Konst. 5) – sind das Haus und die Schule unserer Spiritualität.

80.     Die Etappen, die Johannes von Gott durchschritt -“Leere – Berufung - Veränderung – Gleichgestaltung mit Christus”-, zeigen uns, in welchen Etappen sich unser Weg abspielen muss. Diese Etappen sind nicht als ein linearer und aufeinanderfolgender Vorgang zu verstehen, sondern als ein kreisförmiger, weil sie sich in jedem Lebensalter wiederholen und neu zu gestalten sind. Auf diese Weise wird Johannes von Gott für uns sinnbildlich und konkret zu dem Weg, der uns von Leere (Kenosis) zu Leere und von der Leere zum Dienst bis zum Tod führt 60(vgl. Phil 2, 6-11).

 

a) Die Erfahrung der Leere: aufbrechen, um  “neu geboren zu werden”

81.     Bei jeder Reise verlässt man einen Ort, um an einen anderen zu gelangen. Wer das Gewohnte verlassen will, muss ¿Cuál está siendo nuestra formación? El tiempo de formación es "el tiempo de los métodos". Es el tiempo en que aprendemos a hacer las cosas: estudiar, expresamos, realizar nuestro trabajo profesional, aprendemos a meditar, a orar, a ser buenos religiosos en nuestro Instituto. Desde aquí hacemos críticas a los demás: ellos no han sabido hacer, decir: nosotros haremos las cosas de otra manera, porque pondremos en práctica aquello que sabemos. En esta etapa Moisés ve la realidad con "los ojos de los métodos", es decir, a través de una ideología que poco a poco vamos haciendo nuestra. No nos adecuamos a la realidad tal como ella es. Entramos en contacto no con la realidad misma, sino con la imagen que de ella tenemos. aufbrechen: Diese Aufbrucherfahrung macht gewöhnlich der, der sich in seinem normalen Leben, in seinem gewohnten Lebensumfeld nicht mehr zurecht findet und sich plötzlich wie ein Fremder im eigenen Haus fühlt. Damit beginnt in der Regel ein Prozess, der den Anfang eines Weges markiert, bei dem wir nicht genau wissen, wohin er uns führen wird. Wir sind Johannes von Gott und wie er haben wir die Leere der Dinge dieser Welt gespürt. Mit ihm machen wir die Erfahrung des Aufbruchs.

82.     Diese Erfahrung tritt uns in vorbildlicher Weise in der biblischen Gestalt des Moses und des Volkes Gottes entgegen. In seinem ersten Lebensabschnitt gestaltete Moses sein Leben nach der Vernunft der Ägypter. Dann entdeckte er Schritt für Schritt auf einer langen Wanderschaft durch die Wüste, dass sein Leben und das des Volkes von Jahwe bestimmt waren. Deswegen verzichtete er auf unmittelbare Gewissheiten und falsche Götter und überließ sein Leben der Initiative des einen Gottes, der ihn aufforderte, die Zelte abzubrechen und sich trotz Hindernissen und Barrieren auf den Weg zu machen – eben aufzubrechen. Als stärkste Hindernisse erwiesen sich dabei nicht so sehr die Wüste und schwer überquerbare Flüsse, sondern innere, geistige und gefühlsmäßige Schranken (Angst, Kleinmut und Bequemlichkeit, die das sichere Heute dem unsicheren Morgen vorzieht).

83.     Am Beginn eines jeden spirituellen Wegs steht die Erfahrung der Begrenztheit der Welt und des Lebens. Die Gnade Gottes öffnet einem die Augen für die Zufälligkeit aller Dinge: Nichts von dem, was wir sehen, ist absolut notwendig! Man sucht nach einem Sinn für das Leben und die Welt und findet nur bruchstückhafte oder widersprüchliche Antworten. Was einem gerade noch als vielversprechend erschien, erweist sich schnell als Täuschung. Ungestillte Gefühle, Frustrationen, Enttäuschungen und Misserfolge (Familie, Freundschaft, Studium, Projekte...) zwingen uns, uns über die Dauerhaftigkeit der Werte zu befragen, die in der Gesellschaft gelten, und nach neuen Ausschau zu halten, um unserem Leben einen Sinn zu geben. Selbst der größte Erfolg kann die Unruhe des menschlichen Herzens nicht stillenLa experiencia de vacío en los diferentes momentos del camino personal, como llamada que estimula a superar las seguridades en las que tendemos a situarnos.: “Du hast uns zu dir hingeschaffen, o Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir” (hl. Augustinus). Die wichtigste Frage aber stellt uns Jesus: “Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt?” (Lk 9, 25). Die Erfahrung des Gerufenwerdens, d.h. der Berufung ist der erste Schritt hin zur Lebensänderung. Die Stimme Gottes erklingt manchmal mächtig, manchmal leise. Doch unüberhörbar lädt sie uns ein „aufzubrechen“ und weckt die Sehnsucht nach Neuem.

84.     Diese Erfahrung kann man verschiedene Male in seinem Leben machen. Man macht sie vor allem dann, wenn es notwendig ist, dass man „neu geboren“ wird, d.h. nach schweren inneren oder äußeren Misserfolgen. In der Regel befindet man sich in solchen Momenten in einer chaotischen Lebensphase, in der kein Weg in die Zukunft zu führen scheint und man innerlich die Erfahrung des Todes macht. Diese Erfahrung der Leere kann zu Entmutigung, zu einem passiven Ertragen der Realität bzw. zu einer Einstellung führen, dass man sich vom Leben treiben lässt, anstatt es selbst in die Hand zu nehmen. Eine solche Situation kann auch ein Alarmsignal sein, dass man das Steuer der eigenen Existenz aus der Hand gegeben hat und nicht mehr auf die eigene innere Stimme hört.[95] Die Erfahrung der Leere kann, wenn sie bewusst angenommen und ertragen, und nicht oberflächlich abgetan wird, zu einer Erfahrung der Gnade werden, die eine innere Neubelebung und einen inneren Neubeginn ermöglicht.

85.     Die heilige Theresa von Avila bezeichnet diese Etappe als die ersten beiden Wohnstätten der Seele, Johannes vom Kreuz spricht vom Anfang des Aufstiegs zum Karmelberg und Johannes von Gott beschreibt sie uns als eine Erfahrung des Todes inmitten einer von Tod und Ausweglosigkeit gekennzeichneten Welt. Diese Etappe entspricht den ersten Schritten des geistlichen Lebens, von denen der heilige Johannes von Avila, der Seelenführer unseres Ordensstifters, sagt, dass man dabei lernen müsse, die Sprache der Welt, des Teufels und des Fleisches zu verlernen (“Audi, filia”, I A).

 

b) “Berufung” und Rufe im Leben: “Höre, mein Sohn!”

86.     Sobald eine Person aufhört, für und aus sich selbst zu leben, entdeckt sie, dass ihr Leben ein geheimnisvoller Entwurf ist. Sie wird fähig, die Stimme Gottes zu vernehmen und die Kraft des Geistes zu erleben, der sie zum “Unbekannten” führt und leitet. Das Berufungserlebnis wird gern mit einer „Betörung“ oder „unwiderstehlichen Anziehung“ verglichen. Jesus, der Sohn Gottes, kommt uns entgegen, ja, tritt uns gewissermaßen in den Weg und lädt uns ein, Weg zu wechseln und ihm nachzufolgen.

87.     Berufung geschieht, jedenfalls anfangs, beinahe unmerklich. Sowohl Augenblicke des Glücks als auch Augenblicke der Entmutigung, die auf Frustrationen und Enttäuschungen folgen, sind Sprache Gottes. Jedenfalls ertönt und setzt sich die Stimme Gottes plötzlich in der Tiefe einer Person durch: “Höre, mein Sohn, wende dein Ohr mir zu.” Etwas Unerklärliches zieht uns, noch im Widerstreit oder bereits in Übereinstimmung mit unserem tiefsten Sehnen, an der Form an, in der Jesus von Nazaret die Liebe zum Vater und seinen Brüdern, den Menschen, gelebt und bezeugt hat. Wir spüren plötzlich das dringende Bedürfnis, Lebensstil zu wechseln und mit einem monoton und eintönig praktizierten Christentum ohne größere Komplikationen zu brechen, mit dem wir uns, fast immer unbewusst, bemühten, das Wohlwollen Gottes zu verdienen.

88.     Das Geheimnis Gottes erobert den Menschen nicht immer in Räumen strenger Weltabgeschiedenheit, Zurückgezogenheit und innigen Gebets. Häufig erfolgt diese Eroberung, wie bei Johannes von Gott, durch die Begegnung mit den Gekreuzigten dieser Welt, den Entrechteten und Verachteten. In ihnen entdecken wir das Antlitz Gottes; aus ihnen schallt uns, unüberhörbar, der Ruf Gottes entgegen; mit ihnen spricht uns Gott in einer Weise an, der wir nicht mehr ausweichen können. Im Antlitz der Verunstalteten entdecken wir die Gegenwart des Verklärten.

89.     Die Berufung ist eine Etappe, in der sorgfältige Abwägung, spirituelle Begleitung und die Beantwortung vieler Fragen notwendig ist. Die Meister des geistlichen Lebens sprechen vom “Anfang des Weges” oder von der dritten inneren Bleibe. Auf dieser Etappe ist die Askese ein unverzichtbares Mittel, um den Weg zu erkennen, den Gott uns vorschlägt.

90.     Im Laufe des Lebens erfolgen “neue Rufe”, die den ersten Ruf vertiefen und festigen. Gemeint sind Momente, in denen wir erkennen, dass eine Neuorientierung vonnöten ist bzw. dass wir umdenken lernen müssen (Metanoia), und in denen wir das innere Bedürfnis spüren, uns neuen apostolischen Herausforderungen zu stellen. Auf das Rufen Gottes in solchen Momenten zu antworten, ist genau so lebenswichtig wie die Erwiderung auf den ersten Ruf. Dieses Rufen unbeantwortet zu lassen, bedeutet, in seiner spirituellen Entwicklung stehen zu bleiben.

91.     Das Eingangstor zum spirituellen Weg ist ohne Zweifel die Berufung, doch diese Berufung verlangt unsere ganz persönliche Antwort. Diese Antwort äußert sich vor allem im Gebet und im demütigen Gehorsam und Dienst. Der heilige Johannes von Avila empfahl: “Höre auf das erste Wort… Höre nur auf Gott, der die letzte Wahrheit ist” (Audi, Filia, I, B) 1.) “mit der Kraft des Glaubens” (Audi, Filia, I. B),2.).

 

c) Veränderung und Weihe

92.     Wer sich von Gott zur Nachfolge des heiligen Johannes von Gott berufen fühlt und auf diesen Ruf antwortet, erfährt an sich eine geheimnisvolle, fortschreitende, innere Veränderung. Er wird vom Heiligen Geist zu einer Lebensform hingestaltet, geweiht und befähigt, mit der er sich schrittweise von seinem Selbst loslöst und befreit.

93.     Auch zu uns spricht Gott, wie zum heiligen Johannes von Gott, durch die Schreie der Menschen, die unter Krankheit, Armut und Ungerechtigkeit leiden. Durch diese Schreie erwacht und erstarkt in uns die Fähigkeit zu mitfühlender und barmherziger Liebe, das Verständnis für den Anderen, Wohlwollen, Solidarität und Geschwisterlichkeit. Plötzlich bestimmt eine andere Werteleiter unser Leben. Durch die Weihe in der Hospitalität befähigt uns der Heilige Geist, mit unserem Leben die besondere Liebe des Vaters zu den Leidenden sichtbar zu machen und in der Zeit die Lebensform Jesu von Nazaret fortzuschreiben, indem wir in Keuschheit, Armut, Gehorsam und Hospitalität leben und durch den Dienst an Gott im leidenden Menschen an der Sendung der Kirche mitarbeiten (Konst.1d; 2b; 7b).

94.     Diese umgestaltende Macht des Geistes feiern und empfangen wir in der liturgischen Feier der Ordensprofess (vgl. ET. 47; Konst. 9a). Die Profess besiegelt unser Einverständnis, dass Gott über die verschiedensten Ereignisse unseres Lebens seine weihende Hand hält und uns ständig neu weiht.

95.     Es genügt nämlich nicht, an der Weihefeier teilzunehmen, vielmehr muss man sich ständig neu weihen lassen. Wo diese Bereitschaft besteht, wirkt Gott alles Andere. An diesem Punkt bricht eine mystische Etappe an, in der Gott durch Jesus und den Heiligen Geist zur gestaltenden und bestimmenden Kraft im Leben seiner Auserwählten wird. Die Meister des geistlichen Lebens bezeichnen diese Etappe als vierte Bleibe oder auch als die Etappe des Übergangs vom asketischen zum mystischen Leben. Johannes von Gott hat diese Etappe nicht in kontemplativer Weltabgeschiedenheit erlebt, sondern in der mystischen Betrachtung seines karitativen, barmherzigen Wirkens der Hospitalität. Er fühlte sich vom Heiligen Geist durch die Berührung mit dem menschlichen Elend gesalbt. Auch wir befinden uns auf diesem Weg der ständigen Weihe. Der heilige Johannes von Avila lehrte, dass der Gläubige, der auf die Stimme Gottes hört, ein neues Gespür und eine neue Empfänglichkeit für den Willen Gottes entwickelt, die dazu führt, dass er diese Welt, und selbst das Elternhaus, verlässt und  vergisst (Audi, Filia, II-V).

 

d) Mystische Gleichgestaltung mit dem armen, geächteten und leidenden Jesus

96.     Der Weg im Geiste, der die vollkommene Identifizierung mit dem Herrn zum Ziel hat, kann in diesem Leben nie als abgeschlossen betrachtet werden. Die letzten Etappen fordern von uns eine immer tiefgehendere innere Umgestaltung, die treffend als “mystische Vereinigung” bzw. authentische Symbiose mit dem Herrn bezeichnet wurde: “Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir” (Gal, 2, 20). Der Heilige Geist zeigt sich und wirkt in uns als Hospitalität und gestaltet uns dem mitleidenden und barmherzigen Christus des Evangeliums gleich, damit seine barmherzige Gegenwart in der Zeit lebendig bleibt (Konst. 2).

97.     Auf den letzten Etappen des geistlichen Lebens entdecken wir Kräfte in uns, die jede Vorstellung und Erwartung übertreffen. Wer sich nicht bis hierher führen lässt, wird frustriert bleiben. Diese letzten Etappen werden von den Meistern des geistlichen Lebens die “letzte Bleibe” oder auch die “Ersteigung des Berggipfels” genannt. Johannes von Avila schreibt, dass Gott sich auf dieser Etappe von der Seele des Gläubigen gefangen nehmen lässt (Audi, Filia, VI).

 

3. Unser Weg ist der Weg des Volkes Gottes

98.     Unser gemeinschaftlicher und persönlicher, geistlicher und charismatischer Weg entfaltet sich innerhalb des großen geistlichen Weges des Volkes Gottes und der Kirche. Ein Geschehen, an dem sich der geistliche Weg der Kirche in paradigmatischer, beispielhafter und belehrender Weise zeigt, ist der sakramentale und liturgische Kreislauf. Das ist auch unser Weg. Der liturgisch-sakramentale Zyklus des liturgischen Jahres ist die natürliche Umgebung unseres spirituellen Weges. In diesem Zyklus erschließt sich uns die Offenbarung in ihrer Gesamtheit. Das Schriftwort, das uns die Kirche Tag für Tag, Woche für Woche zur Betrachtung empfiehlt, ist die beste geistliche Nahrung und die beste Führung auf den Wegen des Geistes.

99.     Das Zweite Vatikanische Konzil erklärt: Die Liturgie ist “der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt [...] Aus der Liturgie, besonders aus der Eucharistie, fließt uns wie aus einer Quelle die Gnade zu; in höchstem Maß werden in Christus die Heiligung der Menschen und die Verherrlichung Gottes verwirklicht, auf die alles Tun der Kirche als auf sein Ziel hinstrebt.”[96] Durch die tägliche Feier der Eucharistie im Kontext des liturgischen Zyklus:

Ø        nehmen wir am Opfer Jesu und an dem Opferkult teil, den er für den Vater dargebracht hat (Konst. 7c);

Ø        erfüllen und machen wir unsere Sendung als Hospitalfamilie sichtbar[97]; die in der Eucharistie gegenwärtige Liebe Jesu erneuert unseren Geist als Barmherzige Brüder (Konst. 30);

Ø        der eucharistische Raum und die Gegenwart Jesu in unseren Tabernakeln macht unsere Kommunitäten zu authentischen Schulen der Hospitalität.[98] Unsere eucharistische Hospitalität ist Quelle unserer charismatischen Hospitalität. Und unsere charismatische Hospitalität stärkt und belebt die eucharistische Hospitalität, die wir durch die tägliche Feier der Eucharistie und durch die Anbetung der realen Gegenwart des Herrn an unseren Orten der Andacht entfalten.

100.   In den Bußzeiten der Kirche, wie auch bei gemeinschaftlichen und persönlichen Feiern der Versöhnung, feiern wir die Barmherzigkeit Gottes, erkennen wir unsere Mitwirkung und Verflechtung ins Böse, öffnen uns Gott und der Gemeinschaft und empfangen die umgestaltende Gnade des Herrn. Das Sakrament der Versöhnung nimmt einen zentralen Stellenwert in unserer Spiritualität ein, steht doch die Barmherzigkeit und bedingungslose und freundliche Aufnahme des Anderen im Mittelpunkt unseres Lebens.

101.   Das Sakrament der Krankensalbung hat seit jeher einen bevorzugten Rang beim seelsorglichen und geistlichen Dienst an den Kranken eingenommen. Johannes von Gott setzte sich nach Kräften dafür ein, dass es den Kranken gespendet wurde. In der Tradition des Ordens ist es als ein wahrer Liebesbeweis zu den Kranken durch die Jahrhunderte hindurch bewahrt worden. Mit dem Sakrament der Krankensalbung schenkt uns die Kirche die Möglichkeit, die barmherzige und umgestaltende Nähe Jesu zu feiern. Die gemeinschaftliche Feier dieses Sakraments lässt sowohl die Empfänger als auch die Spender die heilende Gegenwart unseres Herrn Jesus Christus inmitten von Schmerz und Krankheit spürbar erfahren. Die Teilnahme an der Krankensalbung und an dem von der Kirche für die Kranken eingerichteten Gebet stellt ein wichtiges Moment für unser geistliches Wachstum als Barmherzige Brüder dar.

102.   Das  Stundengebet, an dem wir regelmäßig teilnehmen, festigt auf vorzügliche Weise unsere Weggemeinschaft mit dem Volk Gottes. Das Gebet der Psalmen und Hören des Schriftwortes leitet uns, wirksamer als ein doppelschneidiges Schwert, zielsicher auf dem Weg des Herrn. Deswegen wollen und können wir auf diesen lebenswichtigen Rhythmus nicht verzichten. Durch die Teilnahme am Gebet der Kirche treten wir mit der ganzen Menschheit in Verbindung, besonders mit der leidenden Menschheit, welche die leidenden Kirche Christi ist. Es ist sehr wichtig, dass wir uns dieser Dimension unserer Spiritualität bewusst sind: Wir sind die Stimme, die im Namen der vielen, die dazu nicht in der Lage sind bzw. noch nicht das Glück seiner göttlichen Kindschaft erfahren haben, den Gott des Lebens und Vater der Barmherzigkeit loben und preisen, ihm danken und um Hilfe bitten.

 

4. Unser Weg ist der spirituelle Weg des Ordens und seiner Kommunitäten

a) Weitergabe des Charismas

103.   Unser geistlicher Weg ist der Weg des Ordens und der Kommunitäten, in die wir uns eingliedern. Spiritualität hat viel mit Weitergabe, ansteckender Kraft und Gemeinschaft zu tun. Gerade deswegen ist die Gemeinschaft, der Orden (der heutige wie der geschichtliche) so wichtig als Schule der Spiritualität der Hospitalität. Wir empfangen nämlich das Charisma der Hospitalität in einer Gemeinschaft, in der wir von unserem Herrn Jesus Christus als Brüder versammelt wurden, um gemeinsam zum Vater zu gehen und den Menschen die Frohe Botschaft des Heiles zu bringen (Konst. 26 a). Wer sich heute unserer Ordensgemeinschaft anschließt, gliedert sich in eine große spirituelle Tradition ein und verpflichtet sich, diese Tradition mit schöpferischer Treue weiter zu geben, indem er im Zusammenwirken mit dem Heiligen Geist die Gabe der Hospitalität auch bei anderen Menschen, die damit beschenkt sind, erweckt.

104.   Die älteren Brüder und Ordensteile spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie sind Zeugen und Verwalter der spirituellen Tradition des Ordens. Der Kontakt mit ihnen ist belebend. Ihre Gegenwart und ihr Einfluss sind vor allem dort wichtig, wo aufgrund des jungen Alters des Ordens die Gefahr besteht, dass die Verbindung zu den Ursprüngen verloren geht. Deswegen ist es Aufgabe der älteren Brüder und der Brüder, die im Schoß der großen Ordenstradition aufgewachsen sind, eine Art charismatische Vaterschaft auszuüben.

 

b) Geschwisterliche Liebe

105.   Wie Johannes von Gott sind wir berufen, geschwisterliche Bande untereinander und zu anderen Menschen anzuknüpfen. Eine der negativsten Folgen der Säkularisierung, von der heute unsere Umgebung geprägt ist, ist, dass wir Ordenschristen unsere gesellschaftliche Identität verloren haben. Wir sind zu gesellschaftlichen Außenseitern geworden, in dem Sinn, dass die Gesellschaft unsere Rolle als geweihte Menschen nicht mehr anerkennt. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich in die Gesellschaft zu integrieren und von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Diesem Mangel kann nur begegnet werden, indem unsere Gemeinschaften eine starke Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit entwickeln, damit der Einzelne aus und im gemeinschaftlichen Zusammenhalt seine Identität stärken kann. Der wichtigste Bezugsort, der unserer Identität Sinn gibt, ist deswegen die Gemeinschaft, in der wir leben. Dort wo eine Gemeinschaft aus spirituellem Egoismus nicht imstande ist, dieses individuelle Grundbedürfnis der geweihten Person zu befriedigen, kommt es nicht selten vor, dass die Betreffenden außerhalb der Gemeinschaft eine Alternative suchen oder dass diese Dimension zur Privatsache wird oder auch dass man seine gesellschaftliche Identität ganz in der Tätigkeit sucht, die man ausübt (Krankenpfleger, Sozialassistent usw.), indem man die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft auf die Aufgabe reduziert, die einem übertragen ist, und sich so nicht so sehr mit dem, was man ist, identifiziert, sondern mit dem, was man tut. 

106.   Die Gabe der Hospitalität befähigt uns, die Annahme des Anderen sowie Verständnis, Wohlwollen und Dienstbereitschaft gegenüber ihm in erster Linie im Schoß der eigenen Gemeinschaft zu leben und zu pflegen (Konst. 36b). Die erfahrene Barmherzigkeit drängt uns, in unseren Mitbrüdern Träger derselben Gabe zu sehen und untereinander Bande der Gemeinschaft im Geiste anzuknüpfen. Dadurch zeigen und bezeugen wir, dass von Alter, Kultur und Herkunft bedingte Unterschiede ihr Gewicht verlieren, wenn man einander im Zeichen von Werten begegnet, die auf echtem menschlichem Zusammenleben gründen, sprich den anderen so annimmt und wertschätzt, wie er ist.

107.   Das brüderliche Miteinander besitzt nach wie vor eine große, aktuelle Zeichenhaftigkeit und Aussagekraft. Es ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir an Jesus als den Gesandten des Vaters glauben und uns als seine Jünger verstehen (vgl. Joh 13, 35; 17, 21; Konst. 26b). Die Fähigkeit, diese Zeichenhaftigkeit in unserer Gesellschaft zu bewahren, hängt vor allem von der Fähigkeit der Brüder ab, Gemeinschaften zu bilden, in denen man in geschwisterlicher Liebe zusammenlebt. Die Gemeinschaft ist ein Wert, an dem das Evangelium unmittelbar sichtbar wird: Am Gemeinschaftsleben muss erkennbar werden, “dass die geschwisterliche Gemeinschaft, noch eher als Weg für eine bestimmte Sendung, göttlicher Ort ist, an dem die mystische Gegenwart des auferstandenen Herrn erfahren werden kann” (vgl. Mt 18, 20; VC 42).

 

c) Gemeinschaftliche Gotteserfahrung und gemeinschaftliche Suche nach dem Willen Gottes

108.   Unsere Gemeinschaft als Barmherzige Brüder ist der ideale Nährboden für unsere Spiritualität. Sie ist Biozönose (Lebensgemeinschaft), Biotop (Lebensraum), Lebens- und Entwicklungsort. Unsere Gemeinschaften werden in dem Maß zu “Schulen der Spiritualität” werden, in dem wir Brüder erkennen, dass der tiefste Grund, aus dem wir einander begegneten und uns zusammengetan haben, unsere persönliche Gotteserfahrung ist und dass unsere Gemeinschaft der bevorzugte Ort ist, an dem Gott in seiner ganzen Fülle erfahrbar und an andere mitteilbar werden muss (Konst. 27; vgl. DCVR. 15). Deswegen ist es dringend notwendig, dass wir die Tendenz zum Individualismus bei der Gestaltung unseres Innenlebens überwinden und die Gemeinschaft im Geiste sowie den Dialog und die Begegnungen zum Austausch über den Glauben und über die Schwierigkeiten, die uns hindern, bzw. die Mittel, die uns dabei helfen, fördern. Wir müssen uns bemühen und dafür einsetzen, dass ein gemeinsamer Weg gegangen wird und man sich gegenseitig durch brüderliche Unterstützung, Unterweisung und Mitteilung der eigenen Glaubenserfahrung hilft.

109.   Die liturgischen Feiern, das gemeinsame Gebet und die Begegnungen der Gemeinschaft sind Zeiten, in denen wir, geleitet vom Heiligen Geist und indem wir Christus als Mitte unserer Versammlungen empfangen, das Glaubensgespräch und die Glaubensmitteilung praktizieren, unser Leben bewerten und überprüfen sowie den Willen Gottes für unsere Gemeinschaft und für jeden Bruder erkennen können und sollen (vgl. Konst. 38, 3).

110.   Eine Gemeinschaft der Barmherzigen Brüder muss in bezeichnender Weise eine Gemeinschaft geistlicher Entscheidungsfindung sein. Wahrscheinlich ist das einer der entwicklungsfähigsten Aspekte in der Zukunft. Den Geist erkennen, ist etwas, das weit über geistige Scharfsichtigkeit hinausgeht. Auf diesem Gebiet darf sich niemand dem anderen überlegen fühlen. Bei der geistlichen Entscheidungsfindung stellt sich eine Gemeinschaft demütig vor Gott mit dem Wunsch, seinen Willen zu erkennen. Deswegen verlangt ein solches Suchen inniges Gebet und Hinhören auf Gott und auf den Mitbruder sowie das Bewusstsein, dass Gott seine Geheimnisse gern den Einfachsten, Ärmsten und Jüngsten kundtut

 

d) Dienstgemeinschaften der Hospitalität

111.   Die Sendung der Hospitalität, die ein zentrales Daseinsmotiv des Ordens ist, wirkt durch die Gemeinschaften des Ordens und nimmt in ihnen konkrete Gestalt an. Gemeinschaft und Sendung fordern und ergänzen einander (vgl. Konst. 41a; 43c).

112.   Wir sind nicht auf eigene Rechnung tätig: Die Gemeinschaft sendet uns und gibt uns zugleich Rückhalt und Glaubwürdigkeit als Barmherzige Brüder (vgl. Konst. 43c). In und aus der Gemeinschaft verkünden die Brüder den Armen und Kranken das Evangelium Jesu. Nicht alle sind in der Lage, direkt daran mitzuwirken, doch alle tragen in maßgeblicher Weise die Arbeit der Gemeinschaft mit. Tatsächlich sind für die aktiven Brüder die Brüder, die aus Alters-, Krankheits- oder Dienstgründen keine berufliche Tätigkeit ausüben, eine wichtige Stütze. Dieser Gemeinschaftsgeist muss ganz besonders dort gepflegt und gelebt werden, wo die Brüder zumeist alt sind und die professionellen Anforderungen eine weitere Ausübung des Dienstes an den Armen und Kranken nicht gestatten.

113.   Mit unserer Berufung zur Hospitalität hat Gott uns erwählt, eine Gemeinschaft des apostolischen Lebens zu bilden (Konst. 5b; vgl. Mk 3, 13-14). Erst in der Sendung erreicht unsere Gemeinschaft ihre volle Sinndeutung (Konst. 41a) und zeigen sich die Früchte unserer Begegnung mit Gott und den Brüdern. Erst in der Sendung wird die Umgestaltung unserer Identität zu Ordenschristen sichtbar und der mitleidende und barmherzige Christus des Evangeliums, in und durch uns, als liebende Annahme, Dienstbereitschaft und Hingabe an die Kranken und Armen erfahrbar (Konst. 2c; 5a). Keine Ebene unseres Lebens macht für sich allein unsere Identität aus. Unsere Umgestaltung zu Barmherzigen Brüdern erfolgt kraft der Gabe der Hospitalität (Konst. 2b). Deswegen kann die apostolische Tätigkeit nicht vom Gebet oder Gemeinschaftsleben getrennt werden, noch ist es denkbar, dass allein die Tätigkeit oder Arbeit, die wir leisten, Christi Gegenwart unter uns stiftet. Die Hospitalität macht uns zu Barmherzigen Brüdern und Barmherzige Brüder bleiben wir, sowohl wenn wir im Vollbesitz unserer Leistungsfähigkeit beruflich aktiv sind, als auch wenn uns Alter oder Krankheit nicht mehr gestatten, den Kranken und Armen zu dienen, denn unser konstituierendes Merkmal als Barmherzige Brüder ist, dass wir gestaltgewordene Hospitalität sind, aus der an jedem Ort und zu jeder Zeit Hospitalität strömt und wirkt.

114.   Die apostolische Tätigkeit bedeutet keine Unterbrechung des Gemeinschaftslebens (Konst. 43c). Vielmehr findet dieses einen nachhaltigen Ausdruck in der Zerstreuung, mit der wir zum Wohl des hilfsbedürftigen Menschen tätig sind. Außerdem gehört es zum innersten Wesenskern unserer Spiritualität, dass wir uns der Bande bewusst bleiben, die uns in der Zerstreuung einigen. Wir müssen in unserem Getrenntsein verbunden bleiben, indem wir alle gemeinsam das geistliche Programm unserer Gemeinschaft mittragen, und dürfen uns nie alleine fühlen. Mitten unter dem Volk wirken, ist eine spezifische Form des Apostolates der Hospitalität wie auch des Gemeinschaftslebens, denn daran zeigt sich, dass unsere Gemeinschaft für die Anderen und nicht für sich selbst besteht (Konst. 5b; 41a).

 

e) Gemeinschaften mit einem starken kirchlichen Zugehörigkeitsgefühl

115.   Wir dürfen nie vergessen, dass unsere Gemeinschaften zur großen Gemeinschaft der Kirche und darin zu den Teilkirchen mit ihren Seelenhirten gehören. Deswegen lassen wir uns von ihren geistlichen Impulsen, von ihrem Lehramt und vom unergründlichen Walten des Heiligen Geistes in ihr leiten und arbeiten an ihrer Sendung mit, das Reich Gottes sichtbar zu machen (Konst. 1d; 5a; 41a). Dabei sind wir uns bewusst, dass die Kirche Jesu ohne das Zeugnis karitativen Dienstes und der Sendung, den Kranken Heilung zu bringen, unvollständig wäre. Die apostolischen Werke des Ordens müssen Orte sein, an denen öffentlich die christliche Liebe bekannt, verkündet und gepflegt wird, so wie man in einer Pfarrei öffentlich den Glauben bekennt und feiert.[99]

116.   Die Gemeinschaft mit der Kirche belebt bei den Brüdern ihre Berufung zu „mitleidenden und barmherzigen Priestern“ in der Nachfolge Christi (vgl. Konst. 7c; 30 b): Inmitten des leidenden Volkes bringen sie dem Vater ihre Existenz und die Leiden der Armen und Kranken als Opfergabe dar. Außerdem werden sie so zu Propheten des barmherzigen Gottes, der in die Welt der Armen hinabsteigt, um ihnen seine Liebe zu beweisen und die Situationen sozialer und struktureller Ungerechtigkeit anzuklagen. Der Barmherzige Bruder verleiblicht in der Welt den Liebesauftrag Jesu, der seinen höchsten Ausdruck darin fand, dass der Herr seinen Jüngern die Füße wusch. Er soll zum lebendigen Zeichen dieser Geste der Hospitalität und Dienstbereitschaft werden, damit die Gegenwart Jesu bei der Eucharistie nicht nur auf einen sich gleichförmig wiederholenden Ritus beschränkt bleibt, sondern lebendiges Gedächtnis an seine Hingabe wird, mit der er den Menschen neues Leben schenkt und sie als seine Brüder auf eine Stufe mit seiner Würde stellt (vgl. Joh 13, 1-17; Lk 22, 17-21).

 

5. Unserer “persönlicher” geistlicher Weg

117.   Es genügt nicht, den Weg des Volkes Gottes zu gehen und zu teilen. Jeder von uns ist ein einzigartiges Wesen mit einer einmaligen Persönlichkeit. Auch der spirituelle Weg ist von einer individuellen Dimension geprägt, die durch nichts ersetzt werden kann und unter unsere absolute und unübertragbare Verantwortung fällt.

 

a) Das persönliche Gebet als geistlicher Weg

118.   “Der Ursprung unserer karitativen Sendung ist die barmherzige Liebe des Vaters – vgl. 1 Joh 4, 10-11 -. Sie verlangt von uns, dass wir im gemeinschaftlichen und persönlichen Gebet unser inneres Leben und unsere apostolische Tätigkeit harmonisch miteinander zu verbinden suchen. So werden wir fähig, die Liebe zu Gott und den Dienst an den Brüdern in Einheit zu leben” (Konst. 28a). Im Gebet wünscht Jesus, mit uns Wunder der Barmherzigkeit zu wirken  (hl. Benedikt Menni). Er beugt sich über unsere Schwäche, blickt uns mit unendlicher Zärtlichkeit an, umfängt uns mit der ganzen Liebe seines Herzens, wie er sich über das Bett der Kranken beugte, die Kinder und Sünder anblickte und Maria Magdalena, Zachäus und Petrus mit seiner Liebe umfing. Im Gebet sollen wir uns von Jesus anblicken und von seinem Lebenslicht anstrahlen lassen, um den Willen Gottes zu erkennen und ihn mit kindlichem Gehorsam zu befolgen.

119.   Bei der Begegnung mit Gott im persönlichen Gebet prüft der Bruder die Wahrheit und Dynamik seines Weges im Geiste. Die liebevolle und regelmäßige Begegnung mit unserem dreieinigen Gott greift immer tiefer und weiter, bis jeder Moment unseres Lebens ein Beten ist. An der Qualität unseres persönlichen Gesprächs mit Gott sehen wir, wie tief sich der Geist in uns eingesenkt hat. Es stimmt zwar, dass wir nicht wissen, wie wir richtig beten sollen. Doch der Geist kommt uns zu Hilfe (Röm 8, 26-27). Er weist uns den Weg zu einem reifen Gebet und überrascht uns mit seinen Eingebungen im Gebet. Wenn unsere Alltagssorgen und unsere Arbeit kein inniges Gebetsleben zulassen, bleiben wir auf unserem geistlichen Weg stehen, ja laufen Gefahr, uns zurückzuentwickeln.

 

b) Eine persönliche geistliche Ordnung

120.   Jeder Bruder muss seinen geistlichen Weg in einer persönlichen geistlichen Ordnung schriftlich niederlegen. Diese Ordnung sollte man sich reiflich überlegen, gemeinsam mit seinem Seelenführer bzw. Spiritual ausarbeiten und soweit als möglich mit den Mitbrüdern der Kommunität besprechen.

121.   Die persönliche Lebensordnung ist ein Zeugnis unserer ständigen Antwort auf unsere Berufung. An ihr erkennen wir am klarsten, ob wir die Berufung, mit der wir beschenkt wurden, verantwortungsvoll angenommen haben und inwiefern wir bereit sind, sie an jedem Ort und zu jeder Stunde mit entsprechenden Handlungen konsequent in die Praxis umzusetzen, denn um Familie Jesu zu sein und uns Brüder nennen zu dürfen, können wir es nicht dabei belassen, das Wort des Herrn zu hören, sondern müssen es in die Tat umsetzen.

122.   Unsere Lebensordnung ist Antwort auf den Bund mit Gott und zielt auf das anbrechende Reich Gottes. Keuschheit, Armut, Gehorsam und Hospitalität, die unseren Einsatz für den Bund Gottes mit seinem Volk kennzeichnen, erlangen ihren vollen Sinn erst in der Hinordnung auf das Reich Gottes und in der apostolischen Nachfolge Christi. Durch die Ausübung der evangelischen Räte befähigt uns der Heilige Geist, prophetisch gegen Systeme, die auf Ungerechtigkeit, Diskriminierung der Schwachen, Verschwendung und Gewalt gegründet sind, aufzustehen. Die evangelischen Charismen, mit denen uns der Heilige Geist für ein Leben in der Hospitalität beschenkt hat, entwickeln sich durch den leidenschaftlichen Einsatz und eine große Liebe zum Volk. Sie verwurzeln uns immer tiefer bei ihm und in seiner Geschichte und gestalten uns immer mehr den Schwachen der Erde gleich.

123.   Ein wesentliches Element unserer persönlichen Lebensordnung muss die absolute Bereitschaft sein, uns als Barmherzige Brüder für die Menschen hinzugeben. Diese Bereitschaft ist das klarste Zeichen der Spiritualität eines Barmherzigen Bruders, welche immer eine Spiritualität der Hingabe, des ständigen Dienstes und umfassender Aufnahme ohne Wenn und Aber ist. Dabei handelt es sich um einen konkreten Weg, der zum Gipfel der Liebe führt und auf den man sich, wie Jesus und Johannes von Gott, dadurch macht, dass man zu den tiefsten Abgründen menschlicher Armut und Schwäche hinabsteigt, indem man dem leidenden Menschen mit der Haltung eines Barmherzigen Bruders beisteht: mit demütigem, geduldigem und verantwortungsvollem Dienen; mit Achtung vor der Person und Treue zu ihr; mit Verständnis, Wohlwollen und Selbstlosigkeit (Konst. 3b) und seine Ängste und Hoffnungen teilt.

 

c) Kontemplative Menschen bei der apostolischen Tätigkeit

124.   Die apostolische Tätigkeit ist nicht nur etwas Äußerliches. Sie ist Sakramentalisierung der Sendung des Geistes und des Auferstandenen. Deswegen müssen wir Innenleben und tätiges Leben harmonisch miteinander verbinden (vgl. Konst. 28a; 103a). Bei der apostolischen Tätigkeit hören wir nicht auf, in Verbindung mit Christus zu sein. Im Gegenteil: bei der apostolischen Tätigkeit stehen wir in einer ganz besonderen Verbindung mit ihm. Halten wir uns vor Augen, dass “eine ständige Gefahr für die Arbeiter des Evangeliums darin besteht, sich so sehr von der eigenen Tätigkeit für den Herrn vereinnahmen zu lassen, dass man vor lauter Tätigkeit den Herrn vergisst” (Johannes Paul II.). Ein wesentliches Moment unserer Spiritualität besteht darin, dass wir, wenn wir an unseren Dienst gehen, uns stets bewusst sein müssen, dass wir in den Schwachen Jesus selbst dienen. Die “Mystik” der Hospitalität verlangt, dass wir mit einer kontemplativen Einstellung leben. Wir haben das Privileg, Christus ununterbrochen betrachten zu können: die Schwachen – jeder Mensch ist klein und schwach – sind lebendige Darstellungen Jesu. Die Nähe zum menschlichen Leib mit seinen Schwächen, den wir wie Jesus pflegen und heilen wollen, um seine unantastbare Würde sichtbar zu machen und ihn als Ort religiöser und christlicher Erfahrung zu ehren, ist ein grundlegendes Element unserer Spiritualität.

125.   Die Fruchtbarkeit unseres apostolischen Dienstes stärken wir, indem wir uns den Leidenden solidarisch verbunden wissen. Dabei ist uns bewusst, dass unsere barmherzige Liebe zu ihnen niemals ein einseitiges Tun ist (Konst. 42c): Das Apostolat der Hospitalität ist Quelle der Spiritualität, und zwar nicht nur, weil der Bruder dadurch evangelisiert, sondern er selbst bei seinem evangelisierenden Tun evangelisiert wird. Gott spricht zu uns durch die anderen, vor allem durch die, die unsere Hilfe brauchen: hier wird er zu Klage, Bitte und Dank... und lädt uns ein, seine Boten zu erkennen: der Immigrant oder Kranke ist der „Andere“, der das Verschiedenartige und das Fremde verkörpert, mit dem der Heilige Geist uns überraschen will. Die Werte erkennen, die es bei anderen Völkern und Menschen gibt, und sich von ihnen beeindrucken und bereichern lassen, ist eine Quelle der Spiritualität. Die Konsequenzen eines solchen Offenseins sind unvorhersehbar, genauso wie der Heilige Geist unvorhersehbar ist.

126.   Das Apostolat der Hospitalität ist eine authentische Schule und ein authentischer Prüfstein für die Humanisierung, denn es drängt uns, uns immer tiefer Jesus gleichzugestalten, der der Menschheit das Gesicht gegeben hat, das der Vater seit Anbeginn für sie vorgesehen hat. Dieses Gesicht muss von Egoismus und Lieblosigkeit gereinigt werden, damit Aufnahme, Verständnis, Dienstbereitschaft und Selbsthingabe durch gelebte Barmherzigkeit und Sorge um den anderen es zeichnen. Der Kranke mit seinen Bedürfnissen ist nicht nur Empfänger, sondern auch Urheber unserer Liebes- und Verstandeskraft: Er ist unsere „Universität“ (P. Marchesi), denn er lehrt uns ohne viele Theorien die wahre Wissenschaft und Lebensweisheit. Wir teilen das Apostolat der Hospitalität mit den Heil-, Pflege- und Sozialberufen und allen Menschen, die in unseren apostolischen Werken mitarbeiten. Diese Zusammenarbeit erfordert, dass wir ständig unsere Haltungen und Motivationen hinterfragen und prüfen, ob die Leidenden in der Mitte unserer apostolischen Tätigkeiten und aller unserer Bemühungen stehen (Konst. 103b); ob wir unsere ganze Arbeitskraft und Fähigkeiten dem Dienst an Gott durch den Dienst an den Kranken und Hilfsbedürftigen widmen (Konst. 22b; 1d); ob wir persönlich und gemeinschaftlich ethische Wegweiser, kritisches Gewissen und kreative Vordenker[100] sind - heute würden wir Neugründer[101] einer Form von Hospitalität sagen, die in Übereinstimmung mit der Hospitalität des heiligen Johannes von Gott steht; ob wir persönlich und gemeinschaftlich seinen Geist lebendig erhalten und fördern (Gst. 127 b); ob wir so durchdrungen von unserem Sendungsauftrag sind, dass auch unsere Mitarbeiter sich veranlasst sehen, in gleicher Weise zu wirken (Konst. 23a). Gemeinsam mit unseren Mitarbeitern haben wir die Aufgabe, die Werte der menschlichen Person zu pflegen und zu fördern und eine echte „Kultur der Hospitalität“ zu entfalten und zur Wirkung zu bringen.

 

d) Die leibliche Dimension unseres geistlichen Weges

127.   Die Fleischwerdung des Wortes lebt in der Zeit fort und nimmt in der menschlichen Person konkret Gestalt an: sowohl im Bruder, der dient, als auch im Kranken und Hilfsbedürftigen, dem gedient wird. Der Leib ist das Medium, mit dem ich mich anderen mitteile, und gehört untrennbar zum spirituellen Prozess. Unser Leib ist der Tempel des Geistes und Glied des Leibes Christi. Seine Aufgabe ist, Gott zu verherrlichen. Unser Leib trägt unauslöschbar die Zeichen unserer Geschichte und tiefsten Erlebnisse. Er ist der Schauplatz unseres Lebensabenteuers. Er hat eine eucharistische Berufung: Er soll, wie der Leib unseres Ordensvaters Johannes von Gott, Opfergabe werden. Durch die Keuschheit, wie wir sie als Barmherzige Brüder leben, bezeugen wir die Fruchtbarkeit unseres Lebens, denn mit ihr erfüllen wir unsere Sendung, dem Leben zu dienen und es zu fördern, und betonen die Würde und den Wert des Leibes (Konst. 10d).

128.   Die leib-seelische Einheit zeigt uns, dass es keine Spiritualität ohne Leib gibt, aber auch dass jede authentische Wertschätzung des Leibes im Spirituellen mündet. Es steht außer Diskussion, dass zwischen leib-seelischer Einheit und geistlichem Leben eine enge Wechselbeziehung besteht. Daher die Notwendigkeit, ein gesundes Gleichgewicht zu unserer Leiblichkeit zu suchen und zu festigen: Frieden, innere Ruhe, Liebe und Herzlichkeit erfährt und überträgt man durch die Sinne. Jesus legte den Kranken seine Hände auf, wenn er sie heilte (Lk 4, 40).[102]

 

e) Wachsamkeit und Offenheit für den Geist

129.   Wir Barmherzigen Brüder wollen für das Wirken des Geistes in unserer Zeit an allen Stätten unseres Tuns wachsam und hellhörig bleiben. Das kann zur Folge haben, dass wir unsere Spiritualität auch in der Form des Martyriums zu leben bereit sein müssen[103], insbesondere dort, wo sich unsere Sendung nicht so sehr im Tun, als vielmehr im Erleiden vollzieht. Das gilt gleichermaßen für Situationen, in denen wir im Zeichen des interreligiösen Dialogs Jesus als unseren Herrn und Diener aller Menschen bekannt machen und uns zu seinen Zeugen aus einer Spiritualität der Kenosis und Demut machen, wie auch für Situationen, in denen wir gemeinsam mit mutigen Laienchristen für unseren Glauben einstehen und bis zur Hingabe „ad vitam“ bereit sind, wie auch für Situationen, die von Gewalt und Konflikten beherrscht sind und in denen wir uns zu Boten und Zeugen von Gerechtigkeit und Frieden machen.

 

6. Die Ausbildung als geistlicher Weg

130.   Der geistliche Weg vollzieht sich in Miniatur bereits bei der sogenannten “charismatischen Initiation”, die in den ersten Lebensjahren im Orden stattfindet und dann durch die ständige Weiterbildung ein ganzes Leben lang fortgeführt wird.[104]

 

a) Erste Etappe: charismatische Initiation

131.   Bei der Grundausbildung und Berufsausbildung lernt der Bruder bestimmte Dinge: er lernt studieren, sich auszudrücken, eine berufliche Tätigkeit, meditieren, beten und ein guter Bruder zu sein... Es ist die Zeit der “Ideale” – der Heiligkeit, der Gemeinschaft, der “Verleiblichung in der Welt” -.[105] Aus dieser Perspektive bewertet und kritisiert er die anderen, die es meistens nicht richtig gemacht haben, weswegen er es anders machen wird, weil er die Dinge anders sieht. In dieser Etappe sieht man die Dinge in der Hauptsache mit „den Augen der Methode“, sprich, durch eine ideologische Brille. Man ist außerstande, sich der Realität, so wie sie ist, anzupassen. Deswegen setzt man sich mit ihr nicht direkt auseinander, sondern mit dem Bild, das man sich von ihr gemacht hat. Da ist es dann nicht überraschend, wenn es im beinharten Kontakt mit der Realität ein bitteres Erwachen gibt und unsere Ideale auf eine harte Probe gestellt werden. Frustrationen und Misserfolge können als Schule für die „Konkretisierung in der Welt“ dienen, wenn man sich zur Einsicht durchringt, dass der Mensch extrem zerbrechlich ist, bloße Ideen keinen Wert haben und die anderen und gewachsene Strukturen wohl eine Einschränkung, aber auch ein großer Reichtum sein können.[106]

132.   Ähnliche Erfahrungen macht man im Apostolat, wenn der Augenblick kommt, sich aus Alters- oder Krankheitsgründen von der Arbeit zurückzuziehen. Solche Augenblicke der Krise sind eine Herausforderung, um am eingeschlagenen Weg festzuhalten, die Kraft der Hospitalität unter Beweis zu stellen und zu erkennen, dass wir dazu berufen sind, Hospitalität zu sein und das Reich Gottes wie Jesus zu verkünden (Konst. 21), der die Erfahrung des Scheiterns, Leidens, der Angst, Zerbrechlichkeit und Verlassenheit bis zum Tod am Kreuz machen musste, um den leidenden und verlassenen Menschen zu verstehen und zu erlösen (vgl. Heb 2, 14-18).[107]

 

b) Zweite Etappe: verantwortliches Handeln

133.   Nach der Grundausbildung gliedert sich der Barmherzige Bruder mit allen Rechten und Pflichten in die apostolische Tätigkeit ein. Bei diesem Schritt von einem beschützten und geleiteten Dasein zu eigenverantwortlichem Handeln bedarf der junge Bruder einer speziellen und intensiven Begleitung, damit er lernt, in Fülle die Jugend der Liebe und des Enthusiasmus für Christus zu leben.[108]

134.   Im mittleren Alter besteht die Gefahr der Routine oder Verbitterung aufgrund ausbleibender oder karger Erfolge. Das ist der Moment, um im Licht des Evangeliums und des Charismas, unsere „erste Liebe“, unsere ursprüngliche Berufung zu hinterfragen. Gerade in dieser Zeit gilt es, neue Impulse und Motive zu finden, um unserer Berufung treu zu bleiben. In dieser Zeit schärft sich außerdem der Sinn fürs Wesentliche.[109]

135.   Im reifen Alter neigt man dazu, in Individualismus, Starrheit oder Bequemlichkeit zu verfallen. Der geistliche Weg hilft, unsere Lebensfreude zu stärken, uns zu läutern und selbstlos hinzugeben. Dieser Altersabschnitt bietet uns die Möglichkeit, die Gabe und Erfahrung der geistlichen Vaterschaft zu seiner vollen Reife zu bringen.[110]

 

c) Dritte Etappe: wachsende Einschränkungen

136.   Das fortgeschrittene Alter kennzeichnet sich durch den fortschreitenden Rückzug aus dem tätigen Leben, sei es aufgrund Krankheit oder Ruhestand. Obwohl diese Zeit häufig von Leiden gekennzeichnet ist, bietet sie dem alten Bruder die Möglichkeit, sich vom Ostern des Herrn anstrahlen zu lassen. Im Alter nimmt die Berufung zur Hospitalität die Züge geduldigen Erleidens an, durch das wir uns dem leidenden Christus gleichgestalten können. In dieser Gleichgestaltung erreicht der geheimnisvolle geistliche Prozess, den man vor vielen Jahren begonnen hat, seinen Höhepunkt. Der Tod wird als größte Liebestat und vollkommene Hingabe seiner selbst bewusst erwartet und erlebt.[111] 

 

d) Entscheidende Momente

137.   Unabhängig von den Etappen, gibt es in unserem Leben einschneidende und entscheidende Momente. Äußere Umstände, wie ein Schicksalsschlag, ein Misserfolg, ein geschichtliches Ereignis, oder innere Geschehnisse, wie eine Krankheit, eine Depression, ein schmerzlicher Verlust, eine zerbrochene Freundschaft, eine Glaubens- oder Identitätskrise können unser Leben derart unter Spannung setzen, dass es darunter zu zerbrechen droht. In solchen Augenblicken spielen die geistliche Begleitung[112], das Gebet, die Nähe der Brüder und der Halt von Freunden eine entscheidende Rolle. Nur so kann der Bruder den Sinn seines Bundes mit Gott und die wohltuende Tatsache erkennen, dass Gott diesen Bund gestiftet hat und niemals seine Treue aufkünden wird. Prüfungen sind ein Werkzeug des Heiligen Geistes, um die Entfaltung der Betroffenen, ihre Gleichgestaltung mit Christus und die Konsequenz ihrer Nachfolge des Gekreuzigten zu fördern.[113].

 

Schluss

138.   Wenn wir Barmherzigen Brüder den Durst nach Spiritualität, den es im Orden gibt, zulassen, werden wir vom Heiligen Geist überrascht werden. Etwas Neues wird in unser Leben treten. Barrieren werden fallen. Unmögliches wird möglich werden. Plötzlich werden unsere Wüsten in Blüte stehen und unser Durst gestillt sein. Wir werden frohe und begeisterte Boten der Guten Nachricht von der Barmherzigkeit und von der Hospitalität sein - Vorboten einer neuen Welt inmitten einer von Leiden und Verlassenheit gekennzeichneten Welt.

139.   Das Volk Gottes, ja die gesamte Menschheit, braucht unser Zeugnis, denn unser Geist ist von einer großen Menschlichkeit geprägt. Zugleich müssen wir uns bewusst sein, dass auch wir vom Volk Gottes und von der gesamten Menschheit, in die wir untrennbar eingegliedert sind, spirituelle Kraft und Energie empfangen. Deswegen sind wir überzeugt, dass unsere Spiritualität um so tiefer und stärker wirken wird, je mehr wir uns Kirche, Volk Gottes und Menschheit fühlen. Entfalten wir unsere Spiritualität, indem wir unsere Gaben mit den anderen teilen und uns von den Gaben der anderen bereichern lassen.

140.   Folgen wir als Propheten der Barmherzigkeit, gedrängt vom Geist des heiligen Johannes von Gott, der Einladung, die Papst Johannes Paul II. am Beginn dieses dritten Jahrtausends in dem Schreiben Novo millenio ineunte an uns gerichtet hat: “Duc in altum! Gehen wir voll Hoffnung voran!”[114] Christus Jesus, unsere Hoffnung (1 Tim 1,1), wird uns die Kraft geben, unserer prophetischen Sendung treu zu bleiben.


 

 Einleitung

1. Der Zeitenwandel

2. Kirche und Orden in dieser Welt

I. Geschichtliches und Kulturelles Gedächtnis:

Die Ursprünge unseres Charismas

1. Der spirituelle Weg des heiligen Johannes von Gott

 a) Leere: Raum schaffen für die Gnade – erste Etappe

 b) Berufung: zum Dienst an Gott – zweite Etappe

 c) Veränderung: umgestaltet vom Wort Gottes  – dritte Etappe

 d) Gleichgestaltung: arm wie Jesus und die Armen – vierte Etappe

2. Tradition: Überlieferung des Geistes unseres Stifters und Vaters

 a) Vater und Bruder im Geist: die ersten Brüder

 b) Das Vermächtnis des Geistes der Hospitalität

3. Das Charisma des heiligen Johannes von Gott heute: Sendung des Miteinanders und Inkulturation

 II. Das Fundament: Barmherzigkeit und Hospitalität

als Grundkategorien

1. Ausgangspunkt: Barmherzigkeit und Hospitalität, Schuld und Gewalt

2. Die Barmherzigkeit

 a) Der Gott der Barmherzigkeit

 b) Die Menschwerdung des barmherzigen Gottes

 c) Die Barmherzigkeit im Charisma des Ordens

3. Die Hospitalität (Gastfreundschaft)

a) Was ist Hospitalität

b) Die Hospitalität in der Offenbarung

c) Die Hospitalität bei unserem heiligen Stifter Johannes von Gott

d) Die Hospitalität in den Konstitutionen und Schriften des Ordens

4. Barmherzigkeit und Hospitalität in unserer Zeit: die Beziehung zum Fremden

 a) Die Beziehung zum “Fremden

 b) Hospitalität und Barmherzigkeit können erlernt werden

 c) Barmherzigkeit und Hospitalität als Sendung  “heute”

III. Unser Spiritueller Weg:

“Heute” den Weg des Heiligen Johannes von Gott gehen

1. Spiritualität heute

2. Paradigma bzw. Modell unseres spirituellen Weges

 a) Die Erfahrung der Leere: aufbrechen, um  “neu geboren zu werden”

 b) “Berufung” und Rufe im Leben: “Höre, mein Sohn!”

 c) Veränderung und Weihe

 d) Mystische Gleichgestaltung mit dem armen, geächteten und leidenden Jesus

 

3. Unser Weg ist der Weg des Volkes Gottes

4. Unser Weg ist der spirituelle Weg des Ordens und seiner Kommunitäten

 a) Weitergabe des Charismas

 b) Geschwisterliche Liebe

 c) Gemeinschaftliche Gotteserfahrung und gemeinschaftliche Suche nach dem Willen Gottes

 d) Dienstgemeinschaften der Hospitalität

 e) Gemeinschaften mit einem starken kirchlichen Zugehörigkeitsgefühl

5. Unserer “persönlicher” geistlicher Weg

 a) Das persönliche Gebet als geistlicher Weg

 b) Eine persönliche geistliche Ordnung

 c) Kontemplative Menschen bei der apostolischen Tätigkeit

 d) Die leibliche Dimension unseres geistlichen Weges

e) Wachsamkeit und Offenheit für den Geist

6. Die Ausbildung als geistlicher Weg

 a) Erste Etappe: charismatische Initiation

 b) Zweite Etappe: verantwortliches Handeln

 c) Dritte Etappe: wachsende Einschränkungen

 d) Entscheidende Momente

Schluss

 



[1] Regel und Konstitutionen für das Hospital von Johannes von Gott in Granada (1585) Tit. 1º, 1ª Konstitution, aus Erste KonstitutionenRegla y, Tit. 1º, 1ª ConstituciónMadrid 1977, S. 12.

[2] Primitivas Konstitutionen von 1587,Del principio y suceso de la Congregación de los hermanos de Juan de Dios,  IntroducciónEinleitung,  ebd.., S. 81-82.

[3] “Johannes von Gott ist nicht unser Eigentum. Johannes von Gott gehört der ganzen Kirche und der ganzen Menschheit. Ebenso wenig sind wir die Alleinverantwortlichen dafür, dass er in der Geschichte weiterlebt. Doch mit der Hilfe Gottes ist es unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass er und sein Orden in der Zeit weiterleben”,  Fr. Pascual Piles, Lasst euch vom Geist leiten (Gal 5, 16), Rundschreiben an die Brüder des Ordens, Rom, 24. Oktober 1996, (9.3), S. 70.

[4]  Vgl. Dokumentation des 65. Generalkapitels der Barmherzigen Brüder, Granada, 6. bis 24. November 2000; Charta der Hospitalität des Hospitalordens vom heiligen Johannes von Gott, Rom, 8. März 2000; Die Barmherzigen Brüder und ihre Mitarbeiter – Gemeinsam dem Leben dienen, Rom, 8. März 1992; Johannes von Gott lebt, Rom, Oktober 1991; Neuevangelisierung und Hospitalität an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. 63. Generalkapitel der Barmherzigen Brüder, Bogotá, 2. bis 28. Oktober 1994; Marchesi, P., Die Hospitalität der Barmherzigen Brüder – Aufbruch in das Jahr 2000, Rom, 1986; Piles Ferrando, P., Lasst euch vom Geist leiten (Rundschreiben an die Brüder des Ordens), Rom, 24. Oktober 1996; Piles Ferrando, P., Hospitalität im dritten Jahrtausend: die Prophetie des heiligen Johannes von Gott leben (Rundschreiben), Rom, 2. Februar 2001.

[5] “Der Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott lebt und wirkt mitten in dem „globalen Dorf“, das heute die Welt ist. Gegliedert in 21 Ordensprovinzen, einer Vizeprovinz, 6 Generaldelegaturen und 5 Provinzdelegaturen, ist er mit 1500 Brüdern, 40.000 Mitarbeitern und ca. 300.000 Gönnern auf allen fünf Kontinenten in 46 Nationen vertreten und wirkt in 293 Werken für eine Vielzahl von kranken, armen und hilfsbedürftigen Menschen. Obwohl wir alle Glieder ein und derselben Familie – des Ordens – sind, leben wir in grundverschiedenen Situationen. So leben einige von uns eingebunden in hoch technisierten Strukturen und Gesellschaften, während andere in Strukturen und Ländern tätig sind, die gemeinhin als unterentwickelt bezeichnet werden; einige leben in Ländern, in denen Frieden herrscht, während andere in einem von Gewalt und Krieg gekennzeichnetem Klima leben oder unter den Folgen eines solchen Klimas leiden; einige von uns genießen dort, wo sie leben, volle Freiheit, während andere in einem Umfeld leben, in dem ihre Freiheit und Grundrechte stark eingeschränkt sind; einige sind in Krankenhäusern tätig, andere haben soziale Fragen zu ihrer Aufgabe gemacht oder engagieren sich für Randgruppen; einige haben zur Aufgabe, dem Menschen zu leben zu helfen, andere, ihm ein würdiges Sterben zu erlauben; unabhängig davon, dass sich die Tätigkeit von uns allen an der Idee der ganzheitlichen Pflege orientiert, gibt es Aspekte, die uns von Mal zu Mal für die physische Gesundheit, die geistige Gesundheit, die Verbesserung der Lebensverhältnisse u.v.m. im Einsatz sehen; schließlich leben einige von uns in der nördlichen Hälfte der Erde, andere in der südlichen, einige im Westen, andere im Osten.Charta der Hospitalität des Hospitalordens vom heiligen Johannes von Gott – Die Betreuung kranker und hilfsbedürftiger Menschen in der Nachfolge des heiligen Johannes von Gott, Johann von Gott Verlag, Wien – München - Frankfurt, März 2000, S. 4.

[6] Johann von Gott wusste sehr wohl, dass der Mensch, der zu sich selbst finden und die Klippen des Lebens meiden will, wachsam und empfänglich sein muss: “Seid immer auf der Hut”, denn es kann geschehen, dass Ihr in diesem Leben “verloren geht.” Vgl.  Heiliger Johannes von Gott (HJG), Briefe, Erster Brief an die Herzogin von Sesa (1DS), 7; Brief an Luis Bautista (LB), 6; in J. Sánchez, Origen y camino de nuestra espiritualidad).

[7] HJG, Briefe, passim.

[8] Während der Belagerung Fuenterrabías, erbot sich Johannes von Gott, nach Essbarem Ausschau zu halten, als in seinem Lager die Verpflegung ausging: “Er stieg auf eine französische Stute”, die den Feinden abgenommen worden war. Ohne Zügel sprengte er in freiem Lauf über einen abschüssigen Waldabhang zu einigen Gutshöfen. Doch die Stute scheute, als sie plötzlich die “Plätze wiedererkannte, an denen sie sich gewöhnlich aufhielt”. Johannes gelang es nicht, das Pferd zu zügeln, so dass er schwer auf den felsigen Boden fiel, wo er blutend wie tot liegen blieb. Als er wieder zu sich kam, spürte er Ohnmacht, Schmerz, Gefahr wegen der Nähe zum Feind, Angst und Hilflosigkeit in dieser großen Not... Als er sich zu erheben imstande war, “kniete er sich nieder, erhob die Augen zum Himmel und rief den Namen der Jungfrau Maria an.” Auf einen Stock gestützt, gelang es ihm, langsam wieder ins Lager zurückzukehren, wo man ihn sofort “zu Bett gehen hieß.” Francisco de Castro, Geschichte des Lebens und der heiligen Werke von Johannes von Gott (im Folgenden kurz Castro), Regensburg 1977,  S. 38, in J. Sánchez, aebd.).

[9] Castro, S. 40.

[10] Er wuchs im Haus seiner Eltern auf, bis er im Alter von acht Jahren ohne deren Wissen von einem Kleriker in die Stadt Oropesa gebracht wurde” (Castro S. 37).

[11] “Alles vergeht... während wir in diesem Jammertal sind” (1DS 6; 2DS 10). “Denkt immer daran, wie der Tod all das Elende dieser Welt zunichte macht und uns zum Schluss nur ein Stück zerrissenes und schlecht geflicktes Tuch übrigbleibt” (3DS 15).

[12] 1DS 10.

[13] 2DS 18.

[14] BC 6vCastro, S. 43

[15] “Trotz dieses heftigen Verlangens sah Johannes damals noch nicht den Weg, den der Herr ihm für seinen Dienst zeigen wollte... Deshalb war er traurig und konnte nicht Ruhe und Frieden finden.”BC 9. Castro, S. 46

[16] Castro,BC 6v-16 S. 48

[17] Ebd.14ss., S. 51-52

[18] IbdEbd. 16S. 53

[19] Vgl. Castro, S. 54 f.  

[20] Castro, S. 55-56

[21] BC 19ss Ebd., S. 57-58

[22] BC 23ss Ebd., S. 59-60

[23] Ebd., S. 63

[24] IbdEbd.,23v. S. 60

[25] Vgl. Castro, S. 46

[26] Castro, S. 72

[27] Ebd.,  S. 70

[28] J. Sánchez Martínez. “Kénosis-diaconía” en el itinerario espiritual de San Juan de Dios, Jerez, 1995, S. 331, 441

[29] 2GL., 5

[30] Ebd. S. 82

[31] Castro, S. 74BC 36.

[32] IbdEbd., S. 82

[33] Seligsprechungsverfahren des hl. Johannes von Gott, L 52/1.23, f 81. Vgl. J. Sánchez Martínez. “Kénosis-diaconía” S. 190-191.

[34] IbdEbd.  L 52/1.20, f 73v

[35] Castro, S. 101

[36] 1GL 11

[37] Castro, S. 82

[38] Ebd. , S. 82

[39] 1DS 15s. Bei Castro heißt es ähnlich: “...denn sein Herz ertrug es nicht, einen Armen in Not ohne Hilfe zu lassen.”: BC 57v S. 96.

[40] BC 44 Castro, S. 82

[41] Castro, S. 97-98

[42] J. Sánchez Martínez. “Kénosis-diaconía” S. 331, 441.

[43] 2GL., 7

[44] 2DS 2

[45] 2GL 17

[46] 2GL Ebd., 8

[47] 2GL Ebd., 7

[48] BC 76 Castro, S. 114

[49] Ebd., S. 115

[50] Ebd., S. 56

[51] LB 13

[52] Ebd. 8, 9

[53] Ebd. 6

[54] Ebd. 7

[55] Ebd. 9

[56] Ebd. 15

[57] Ebd. 10

[58] Ebd. 11. 13, 9

[59] Ebd. 15

[60] Vgl. 1DS 13

[61] J. Sánchez Martínez. “Kénosis-diaconía”Id , S. 292, 307, 393.

[62] Von „Gefährten“ ist in den ersten Schriften in Wirklichkeit nirgendwo die Rede. In der Biographie von Castro wird im 20. Kapitel nur ein Gefährte von Johannes von Gott, und zwar Anton Martín, erwähnt. Aber in den Unterlagen des Rechtsstreits (zwischen Barmherzigen Brüdern und Hieronimyten),  die zeitlich vor der Biographie von Castro verfasst wurden, wird immer wieder von den „Brüdern im Gewande“ von Johannes von Gott gesprochen. Von Gefährten ist dann ausführlich in den Biographien von Dionisio Celi und Antonio Govea die Rede. Johannes von Avila (den der Heilige in seinen Briefen liebevoll “Angulo” nennt) nennt vier Gefährten namentlich: Anton Martín, Pedro Pecador, Alonso Retingano und Domingo Benedicto.

[63] L. Ortega Lázaro, El hermano Antón Martín y su hospital en la calle Atocha de Madrid (1500-1936), Madrid 1981,. S. 31. Vgl. 17-19

[64] Vgl. J. Sánchez Martínez. “Kénosis-diaconía”Id , TT 8/5; T 9/5; T 10/5, S. 346, 356, 364.

[65] Vgl. J. Sánchez Martínez. “Kénosis-diaconía”Id , T 11/20, S. 383: Sie nahmen alle Arten von Armen und Kranken auf, ohne darauf zu achten, ob es Christen oder Mauren warenimportana. Keinen ließen sie ohne Hilfe.

[66] Bereits in den ersten Konstitutionen wird dieser wesentliche Aspekt unterstrichen.

[67] Wie an Johannes von Gott, macht uns an Jesus seine radikale Hingebungsfähigkeit betroffen, die bis zum Opfertod am Kreuz ging. Darum nimmt die Betrachtung der Passion Christi, « des Schmerzensmannes“ (Is 53, 3), einen bedeutenden Platz in unserer Spiritualität ein (Konst. 33). In diesem Punkt geht die Tradition des Ordens auf unseren heiligen Stifter zurück, der bekanntlich ein großer Verehrer der Passion Christi war. Bei der Betrachtung des gekreuzigten Christus versenkte sich unser Ordensvater sowohl in die Leiden, die er ertrug, als auch in die Kraft der Liebe, mit der er sie ertrug und die mit einschloss, dass man auch seinen Feinden vergibt. Auf diese Liebesfähigkeit wies er hin, als er an Luis Bautista schrieb: “Gedenkt unseres Herrn Jesus Christus und seines geheiligten Leidens, der das Übel, das sie ihm antaten, mit Gutem vergalt. Genauso müsst Ihr handeln”(Nrn. 10.11). Johannes forderte nicht dazu auf, das Leiden Christi durch ein Leben der Buße und Abtötung nachzuahmen, sondern durch ein Leben liebevoller Hingabe an den Dienst des leidenden Mitmenschen. Im leidenden Antlitz der Kranken und ohnmächtigen Dasein der Armen erkennt und betrachtet Johannes von Gott Christus. Ihnen zu dienen, ist für ihn kein Kreuz, ja nicht einmal ein Opfer, sondern eine spontane Erwiderung auf die Liebe Gottes, die sein Leben überflutet hat und aufgrund der er nicht anders kann, als alle zu jeder Zeit und an jedem Ort zu lieben, ganz besonders die Schwächsten.

[68] Unsere Spiritualität ist ihrem Kern nach christozentrisch. Johannes von Gott war ein leidenschaftlicher Freund Jesu. Von ihm haben wir gelernt, unser Leben auf Christus hinzuordnen und dessen Form des Dienens, Liebens und Heilens zu betrachten. Jesus von Nazaret ist unser Meister, der uns die Haltungen und Handlungen lehrt, die wir verleiblichen müssen, um sein Werk der Liebe fortzuführen. Wie Jesus müssen wir uns vom menschlichen Elend und Leid betroffen fühlen (vgl. Mt 9, 36) und im Dienst am Menschen und in der Linderung von Leid das einzige sehen, was in unserem Leben zählt (vgl. Mk 6, 34-44). Wie Jesus spüren wir, dass, wenn wir hilfsbedürftigen Menschen helfen und dienen, eine innere Kraft von uns ausströmt (vgl. Lk 8, 40-48). Wenn wir betrachten, wie Jesus sich mit den Armen und Kranken identifiziert und ihre Leiden und Krankheiten auf sich nimmt (vgl. Mt 8, 17), erstarkt jedes Mal von Neuem unser Entschluss, uns dem Dienst an den Leidenden zu widmen und wie Jesus Knechtgestalt anzunehmen und unter Einsatz des eigenen Lebens das Leben der Armen zu fördern und zu schützen (vgl. Mt  12, 15-21; 20, 28).

[69] Die Jungfrau Maria, Sinnbild der Kirche und die erste geweihte Person überhaupt (vgl. VC 112), ist für uns ein Modell, wie wir Christus in der Hospitalität dienen sollen. Johannes von Gott war von einer innigen Liebe zu Maria erfüllt: er verehrte sie aufs Tiefste und ahmte ihre Lebensform nach; er war ein ergebener Diener Mariens und spürte ihre Nähe und ihren Schutz in den schwierigsten Augenblicken seines Lebens. Alle Briefe des heiligen Johannes von Gott beginnen mit den Worten: Im Namen unseres Herrn Jesus Christus und unserer Herrin, der Unbefleckten Jungfrau Maria. Er wollte, dass alles, was man tut, “... zum Dienst unseres Herrn Jesus Christus und unserer Herrin, der Jungfrau Maria, gereiche” (1 GL 11). Er betete immer den Rosenkranz und lud andere ein, ein Gleiches zu tun: “Als letzten Hinweis sage ich Euch, dass es mir mit dem Rosenkranzgebet sehr gut gegangen ist, und wenn Gott will, werde ich ihn beten, sooft ich kann” (LB 17). Er übertrug auf seine Gefährten das Vertrauen in die Jungfrau Maria und den Wunsch, sie beim Dienst am den Armen und Kranken nachzuahmen. Als Beispiel sei hier nur Anton Martín genannt, der in seinem Testament schrieb: Im Namen der Heiligsten Dreifaltigkeit... und der seligen und glorreichen Jungfrau, unserer Herrin und seiner heiligen Mutter Maria, die meine Herrin und Fürsprecherin in allen Dingen ist... [...]... zum Dienst an unserem Herrn Jesus Christus und seiner glorreichen Mutter (L. Ortega Lázaro, El Hermano Antón Martín y su Hospital en la C. Atocha de Madrid. 1550-1936, Madrid, 1981, S. 8).

In Übereinstimmung mit der Tradition des Ordens findet sich in den Konstitutionen die Gestalt Mariens im Mittelpunkt unserer Spiritualität: Die selige Jungfrau Maria ist in einzigartiger Weise Vorbild unserer Weihe (Art. 25), denn sie kennzeichnet sich durch eine vorzügliche Hospitalität, die in der restlosen Hingabe an den Menschen und an das Werk Jesu Ausdruck gefunden hat (vgl. Art. 42b). Ihr Beispiel spornt uns an, wie sie unseren Pilgerweg des Glaubens zu gehen (vgl. LG 58) und sie nachzuahmen, indem wir uns mit liebender Fürsorge den Leidenden zuwenden und uns so mit dem Opfer ihres Sohnes vereinen, das sich in den Leiden und Schmerzen der Menschheit fortsetzt (Art. 34a; vgl. Art. 4d). Maria hat als Heil der Kranken und Mutter der Barmherzigkeit schon immer einen einzigartigen Platz im Leben unserer Ordensgemeinschaft eingenommen (Konst. 42b) und muss einen einzigartigen Platz im Herzen eines jeden Bruders haben. Wir erweisen ihr unsere Liebe, indem wir uns bemühen, wie sie mit Schlichtheit, Bereitwilligkeit, Hingabe und Treue den Willen Gottes anzunehmen und zu erfüllen (vgl. Konst. 4c). Zugleich verehren wir sie mit kindlicher Zuneigung, indem wir ihre Feste feiern, vor allem das der Schutzfrau unseres Ordens, und mit den traditionellen Mariengebeten verehren, in vorzüglicher Weise mit dem Rosenkranzgebet (vgl. Konst. 4d; 42b).

Die Jungfrau des Magnifikats versinnbildlicht in vorzüglicher Weise einen Grundaspekt unserer Spiritualität: Der barmherzige Gott erfüllt seine Verheißung von der Befreiung des Menschen und beugt sich mit einer besonderen Vorliebe zu den Armen und Schwachen hinab, indem er die Macht seiner Barmherzigkeit den Hochmut der Mächtigen dieser Welt, die die Schwachen unterdrücken, besiegen lässt. Wie Maria müssen wir uns der Gemeinschaft der Armen angehörig fühlen, die ungerechte Situation, in der sie leben, als unsere betrachten und uns, getragen vom Evangelium, für ihre umfassende Befreiung einsetzen (vgl. Lk 2, 46-53).

Andererseits ist Maria für uns, wenn wir an ihren Besuch bei Elisabeth denken, der sie mit großer Schlichtheit ihre Hilfe anbietet, ein einmaliges Vorbild der Hospitalität, das noch an Wirkung gewinnt, wenn wir bedenken, dass Gott an Maria sein Heilswerk kundtut und in Bewegung setzt. Der im Schoß Mariens fleischgewordene Gott erhebt, indem er sie als Mittlerin erwählt, die seinen Geist Elisabeth und dem Kind, das sie in ihrem Schoß trägt, mitteilt (vgl. Lk 2, 41-44), das Geschehen der Hospitalität, dem wir bei diesem Besuch beiwohnen, in den Rang eines Sakraments, das Ankündigung und Erfüllung seines Heilswerkes ist.

[70] Konst. 1984 103a

[71] Ebd. 1984, 103

[72] VC 54

[73] Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil begann in unserem Orden in der Mitte der 80iger Jahre eine Bewegung, die den Aufbau einer partnerschaftlichen Beziehung zu den Mitarbeitern zum Ziel hatte. In jüngster Vergangenheit hat die Kirche diesen Schritt in offiziellen Dokumenten gutgeheißen und begrüßt, indem sie erklärte, dass die Laien an der Sendung der Ordensleute teilnehmen und mitarbeiten, „so dass ein neues, hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte der Beziehungen zwischen den Personen des geweihten Lebens und den Laien begonnen hat (vgl. VC 54; Konst. 23a).

[74] Vgl. V.A,. Riesco, La Hospitalidad manifestación del Ser de Dios en favor del hombre. Fundamento bíblico de nuestra espiritualidad.

[75] Ein nicht leicht zu erklärender Aspekt ist, dass Gott im Alten Testament manchmal gewaltsame und teilweise sogar dämonische Züge trägt. Ein Grund dafür ist sicher, dass man damit das Geheimnis des Bösen zu erklären versuchte und  Jahwe allen Götzen als den einzigen Gott entgegenstellte.

[76] Die Richtigkeit dieser Aussage können wir im ersten Kapitel (Grundkonstitution) unserer derzeitigen Konstitutionen nachprüfen. Dort wird zunächst Johannes von Gott als ein Mensch dargestellt, der, “von der Macht der barmherzigen Liebe des Vaters umgestaltet... die Liebe zu Gott und zum Nächsten in ungetrübter Einheit“ lebte und1m  "in Treue den Heiland in seinen Gesinnungen und Werken der Barmherzigkeit“ nachahmte, indem er „in restloser Hingabe den Armen und Kranken“ diente (Konst. 1).

[77] Gleich anschließend heißt es: "Unser Hospitalorden hat seinen Ursprung im Evangelium von der Barmherzigkeit (Mt 8, 17; 25, 34-46), wie es vom heiligen Johannes von Gott in seiner ganzen Fülle gelebt wurde" (Konst. 1). Und weiter: Durch die Weihe des Heiligen Geistes werden die Brüder dem barmherzigen und mitleidenden Jesus gleichgestaltet und haben an der barmherzigen Liebe des Vaters teil. So vergegenwärtigen sie in der Zeit die barmherzige Liebe Jesu von Nazaret (Konst. 2).

[78] 1 HS 13

[79] Vgl. Daniel Innerarity, Ética de la hospitalidad, Península-Verlag, Barcelona 2001.

[80] Vgl. N.B. Pagadut, Be hospitable, Claretian Publications, Quezon City, PhilipiinesPhilippinen 1992.

[81] Castro, S. 75; 83

[82] ... und der Zeuge erinnert sich, dass er einmal, als er in die Küche kam, ihn fröhlich in die Hände klatschend und singend antraf. Der Zeuge sagte zu ihm: «Warum seid ihr so froh, Vater». Da antwortete er: «Wer Gott dient, ist immer froh». (Zeuge 30. In Gómez Moreno, ebd. S. 214).

Er war oft dort und sah ihn, wie er die Kranken besuchte, sie liebevoll pflegte, ihnen Bettwäsche zurecht machte und sie bequem lagerte, wobei unentwegt ein Lächeln um seinen Mund spielte und er eine unendliche Liebe und Barmherzigkeit ausstrahlte, so dass es schien, als ob er alle Kranken am liebsten auf seinem Schoß liebkost hätte. (Zeuge 59. In Gómez Moreno, ebd., S. 231-232)

[83] 2 GL., 5

[84] Liebt unseren Herrn Jesus Christus über alles auf der Welt, denn, wie viel Ihr ihn auch liebt, er liebt Euch mehr. Bleibt immer in der Liebe, denn wo keine Liebe herrscht, ist Gott nicht – wenngleich Gott überall ist (LB 13).

[85] Konst. 1587, Kap. 17. ebd., S. 95.

[86] Konst. 2 c.; 3 a; 5 a

[87] Vgl. GS 22; Konst. 20

[88] “Die Erneuerung, die wir anstreben, zielt in zwei Richtungen: Erstens wollen wir damit die Schwächen, die unserem Leben anhaften, und die Barrieren, die unser brüderliches Miteinander behindern, beseitigen. Zweitens wollen wir unsere „Stärken“ mit neuer Kraft zur Geltung bringen, denn sie werden uns helfen, zu einer Einheit zu finden, so wie sie zwischen Vater und Sohn herrscht” (P. Marchesi, Die Grundlagen der Erneuerung, Rom, 1978, S. 18).

[89] “Wir müssen uns bewusst sein, dass das wichtigste Bedürfnis des Menschen nicht wirtschaftlicher Natur ist, sondern als schätzenswerte Person anerkannt zu werden, deren Würde in sich selbst gegeben ist, die es um ihrer selbst willen verdient, Pflege, Zuwendung und Liebe ohne Ansehen ihrer Kultur, Herkunft. Rasse usw. zu empfangen“ ( P. Marchesi, Vermenschlichung, Madrid 1981, Begleitschreiben, S. 18).

[90] „Kaum war Johannes am Hof angelangt, unterrichteten der Herzog von Tendilla und andere Herren, die ihn kannten, den König, berichteten ihm von den Taten von Johannes von Gott und führten diesen schließlich in den Palast. Dort wandte sich Johannes an den König, indem er ihn folgendermaßen ansprach: „Herr, ich bin gewohnt, alle Brüder in Jesus Christus zu nennen...“ (Castro, ebd., S. 94)

[91] Vgl. Hospitalorden des Hl. Johannes von Gott, Die Barmherzigen Brüder und ihre Mitarbeiter – Gemeinsam dem Leben dienen.

[92] In den 80iger Jahren suchte der Orden unter dem Einfluss des Gedankens der Humanisierung, seine Sendung in Übereinstimmung mit den alten und neuen Nöten der Menschheit zu reorganisieren. Eine besonders interessante Verlautbarung in dieser Hinsicht war die Schlusserklärung der Provinzialekonferenz vom Jahr 1981: “Wir glauben fest an die fortschreitende Erneuerung des Ordens und wollen uns dafür nach Kräften einsetzen. Wir sind überzeugt, dass wir die Erneuerung nur erreichen können, wenn alle Mitglieder unserer Gemeinschaft bereit sind, mit einer ständigen Haltung des Neubeginns die Forderungen zu erfüllen, die uns aus unserer Weihe als Barmherzige Brüder an Gott entstehen, und wenn wir uns alle bemühen, diese Haltung in konkreten Antworten zum Ausdruck zu bringen, so wie sie von uns von Kirche und Gesellschaft erwartet werden. An diesem geschichtlichen Wendepunkt, an dem die grundlegenden Werte der menschlichen Person auf einer Seite eingefordert, auf der anderen verletzt werden, sehen wir es kraft des Charismas, das wir empfangen haben, als unsere Pflicht an, entschieden für die Achtung und für den Schutz der menschlichen Würde einzutreten. Das hat uns zur Überzeugung geführt, dass die Humanisierung in dem Sinn, in dem sie in der Person Jesu Christi Gestalt angenommen hat, an diesem geschichtlichen Wendepunkt das einigende und verbindende Band ist, das uns helfen kann, den Erneuerungsprozess mit konkreten Handlungen in das Leben zu übertragen” (P. Marchesi, ebd., S. 91-92).

[93] Vgl. auch Nr. 10: “Wir leben in einer Zeit, in die der Geist einbricht und neue Möglichkeiten eröffnet. Obschon die charismatische Seite der verschiedenen Formen des geweihten Lebens in ständiger Bewegung und niemals vollendet ist, bereitet sie gemeinsam mit dem hl. Geist in der Kirche das Kommen Dessen vor, der kommen muss, Dessen, der bereits die Zukunft der voranschreitenden Menschheit ist.” Siehe auch die Nrn. 18, 21 usw. Vergessen wir nicht, dass das Sinnbild des “Weges” das zentrale Motiv dieses Dokuments ist.

[94] Vgl. Generalleitung, Johannes von Gott lebt, Rom, 1991, S. 12-13.

[95] So erging es Johannes von Gott: Nachdem er sich als einen menschlich Entwurzelten erkannt hatte, vernahm er eine innere Stimme, die ihn bereits in Oropesa aufgefordert hatte, das Hirtenleben aufzugeben und sich dem Dienst des Herrn „außerhalb seiner Heimat“ zu widmen, denn “er litt sehr darunter, dass im Haus des Grafen von Oropesa die Pferde wohlgenährt, glänzend herausgeputzt und in warme Decken gehüllt im Stall standen, während die Armen schwach, nackt und der schlechten Behandlung ihrer Mitmenschen ausgesetzt waren. Deshalb sagte er zu sich selbst: „Johannes, wäre es nicht besser, du würdest die Armen Jesu Christi nähren und pflegen als die Tiere des Feldes?“ (Castro, S. 45-46).

[96] SC 10

[97] „In der Eucharistie verbindet Christus uns tatsächlich mit sich selbst in seiner österlichen Hingabe an den Vater: wir opfern und sind selbst Geopferte. Die Weihe zum Ordensleben selbst nimmt eucharistische Züge an: sie ist eine völlige Hingabe seiner selbst und ist aufs engste mit dem eucharistischen Opfer verbunden. Hier treffen alle Formen des Gebets zusammen, hier wird das Wort Gottes verkündet und angenommen, hier sind wir aufgerufen zu einer Beziehung zu Gott, mit den Brüdern und mit allen Menschen: es ist das Sakrament der Kindschaft, der Geschwisterlichkeit und der Sendung. Als Sakrament der Einheit in Christus ist die Eucharistie gleichzeitig Sakrament der kirchlichen Einheit und der Einheit der Geweihten“ (Neubeginn in Christus, Nr. 21).

[98] “Sein immerwährendes Dasein zur Stärkung, zum Trost und zur Wegzehrung der Kranken ermutigt uns, an der Seite des leidenden Menschen zu bleiben und ihn in seinem Schmerz und seiner Einsamkeit zu begleiten ” (Konst. 30c).

[99] Die Kirche braucht uns, so wie wir sie brauchen... Daher ist die Kommunikation innerhalb der Kirche von grundlegender Bedeutung. Identität und Programm unserer Berufung und unseres Charismas müssen den Gläubigen bekannt sein und als Ansporn und Vorbild dienen, sowie als ein Weg erkannt werden, auf dem die aus der Taufe heraus allen gemeinsame Berufung zur Heiligkeit verwirklicht werden kann (P. Marchesi, Unsere Hospitalität – Barmherzige Brüder- Im Aufbruch in das Jahr 2000, Rom, 1986, Nr. 89).

[100] Vgl. P. Marchesi, Unsere Hospitalität – Barmherzige Brüder – Aufbruch in das Jahr 2000, Rom, 1986, Nrn. 66-86.

[101] Die Spiritualität beim Dienst äußert sich in Enthusiasmus, prophetischer Phantasie und apostolischer Kreativität. Mangelnder Geist führt zu Routine, Monotonie und ständiger Wiederholung. Wo hingegen das machtvolle Wirken des Geistes zugelassen wird, wirkt es wie ein Feuer, das alles belebt und neu schafft. Für einen Bruder, der vom Geist der Hospitalität durchdrungen ist, wird seine Berufung nie zur Gewohnheit, vielmehr entdeckt er ständig die Neuheit des Reiches Gottes bei allem, was er tut.

[102] Unser Leib ist engstens mit der Natur verbunden. Er ist der Teil der Natur, den wir am stärksten zivilisiert haben. Unsere Spiritualität erlangt so auch eine ökologische Dimension, die wir absolut nicht unterschätzen dürfen, denn auf diese Weise entwickeln wir eine besondere Scharfsichtigkeit für die Kräfte, aber auch für die Schwächen und Gefährdungen des menschlichen Leibes.

[103] Am Lebenshorizont eines Barmherzigen Bruders steht immer die Möglichkeit des Martyriums, das der „Ernstfall“ der christlichen Hingebungsbereitschaft, der Bekennung des Glaubens und der Verkündung der Hoffnung ist. Das Martyrium ist ein Geschenk. Als solches ist es auch immer anerkannt worden. Es ist ein Geschenk für den Märtyrer und für den Orden. Es ist ein paradoxes, aber wirkliches Geschenk. Wir können es von vorneherein ablehnen, indem wir Gefahren meiden, Sicherheit suchen und jedem Risiko ausweichen. Ein solches Leben verdient jedoch nicht, das „Leben eines Barmherzigen Bruders“ genannt zu werden. Das Martyrium als Horizont gibt dem Leben des Barmherzigen Bruders eine besondere Farbe. Zu den Formen des Martyriums gehören auch Einsatzformen an der Seite der Armen und Entrechteten, die zu gesellschaftlicher Ausgrenzung, Isolierung und Verurteilung führen. Das ist dann der Fall, wenn ein Barmherziger Bruder sagen kann: „Ich war im Gefängnis“, „Ich wurde ausgewiesen“ usw.

[104] Orden Hospitalaria de San Juan de Dios. Proyecto de Formación de los Hermanos de San Juan de Dios. Roma 2000: “In unserem Ordensleben gibt es bedeutende Etappen, die wir mit besonderer Sorgfalt pflegen müssen: die ersten Jahre der Grundausbildung mit ihren verschiedenen Etappen, das Alter der Reife, Momente der Krise und der allmähliche Rückzug aus dem tätigen Leben. Das Leben der Ordensinstitute und vor allem ihre Zukunft hängen zum Teil von der Weiterbildung ihrer Mitglieder ab. Es gehört zu den Pflichten eines jeden Ordensinstituts, den Mitgliedern angemessene Mittel und die erforderliche Zeit für eine wirksame Ausbildung zur Verfügung zu stellen.” Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott. Die Ausbildungsordnung der Barmherzigen Brüder (AO) Rom 2000,  Nr. 132). Vgl.

Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott: Die ständige Weiterbildung im Orden, Rom 1991. 

[105] IbAO. Nrn. 39 und 44

[106] IbEbd., Nrn. 46-57. Grundelemente unseres Ausbildungsmodelles: Die Ausbildung im Orden ist ganzheitlich, ein Entwicklungsprozess, ein Erfahren und Erleben, sie orientiert sich am Einzelnen, erfolgt graduell und differenziert, macht frei und prophetisch und ist von einer universalen Offenheit gekennzeichnet.

[107] Ib Ebd., Nr. 24: “Deswegen muss dem Kandidaten und Auszubildenden beim Ausbildungsprozess ausgiebig die Möglichkeit gegeben werden, das Charisma und die Spiritualität des Ordens im Licht des Lebensweges unseres heiligen Stifters zu erforschen und zu verinnerlichen.”

[108] Ebd., Nrn. 92 und 137c

[109] Ebd., Nr. 26h. Die ständige Weiterbildung im Orden, Nr. 33

[110] Ebd., Nr. 136. Die ständige Weiterbildung im Orden, Nr. 34

[111] Ebd., Nr. 44. Die ständige Weiterbildung im Orden, Nrn. 35 und 36

[112] Auf seinem persönlichen geistlichen Weg muss sich der Einzelne von einem spirituellen Führer begleiten lassen, und das nicht nur in der Jugend, sondern in allen Lebensabschnitten. Die innige Beziehung von Johannes von Gott zum heiligen Johannes von Avila ist für uns in diesem Zusammenhang ein vorzüglicher Bezugspunkt. Wir müssen uns auf tiefster Ebene einem im geistlichen Weg erfahrenen Bruder oder erfahrenen Schwester mitteilen können. Das hilft uns als Orientierung, Hinterfragung und Ansporn. Den Oberen obliegt die Aufgabe, im Rahmen des Möglichen gegenüber allen Brüdern ihrer Gemeinschaft einen Dienst spiritueller Animation wahrzunehmen.

[113] “Alle Brüder und Auszubildenden müssen die Fähigkeit erlangen, positive wie negative Ereignisse als Bestandteil ihrer Lebensgeschichte anzunehmen und zu verarbeiten und darin Gott erkennen, der zu uns spricht. ” (AO, Nrn. 27 und 50).

[114] NMI 58

 
 

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